Putin, der Tyrann?
Seit seinem Angriffskrieg auf die Ukraine wird Wladimir Putin mit historischen Figuren von Stalin bis Zar Iwan IV. verglichen und als Tyrann und Despot bezeichnet. Trotz allem muss er zumindest den Schein eines Rechtsstaates wahren.
Wie jeder Mensch ist auch Wladimir Putin ein Produkt seiner eigenen Geschichte. Und wie jedem zeitgenössischen Autokraten war und ist es auch ihm ein Ziel, das Narrativ über seine Person selbst zu stricken und kontrolliert weiterzugeben. Doch Putins Einfluss über sein Bild in den Geschichtsbüchern ist ihm spätestens am 24. Februar 2022 entglitten, an jenem Tag, an dem er ohne Not und Notwendigkeit die Ukraine überfiel, allein persönlichen Motiven geschuldet, mit wirr zusammengetragenen Argumenten. Wie wird sich also die Nachwelt an ihn erinnern? Als einen eiskalten KGBSpion? Als den gewählten Präsident, der zum Tyrannen wurde, zum Kriegstreiber und Menschenfeind?
In seinem viel beachteten Kommentar in der „New York Times“schrieb der Journalist Thomas L. Friedman: „Der einzige Ort, an dem man diesen Krieg verstehen kann, ist in Wladimir Putins Kopf.“Und weiter: „Putin ist der mächtigste, am wenigsten kontrollierte russische Führer seit Stalin.“Es liegt nahe, Referenzpunkte in der Vergangenheit zu suchen, um Putins Gegenwart zu erklären. Seit Beginn des Krieges wurden viele Fragen gestellt: Ist Putin die Verkörperung eines Diktators im 21. Jahrhundert? Die Reinkarnation von Stalin? Oder gar ein Zar? Historiker Matthäus Wehowski vom Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung antwortet auf derartige Fragen stets mit einem „Jein“. Zunächst verstand sich der Zar als Autokrat, und zwar noch mehr als in anderen Königreichen, wo der Adel oder andere Institutionen einmal mehr, einmal weniger auf die Position des Monarchen einwirken konnten.
„Das Selbstverständnis des Zarentums war die Autokratie“, sagt Wehowski, „es gab keine anderen Körperschaften, die den Machtanspruch des Zaren eingeschränkt hätten.“Selbst Reformzaren wie Iwan IV. (der Schreckliche) und Alexander III. sind an ihren Reformen gescheitert, weil am Ende auch für sie keine Einschränkung ihrer Macht in Frage kam.
Ämtertausch. Putin ist ein Machtmensch, und er vereint Merkmale bestimmter Herrschertypen in sich. Doch im Gegensatz zu den historischen Zaren muss er zumindest den Anschein der Machtverteilung wahren – man denke nur an den Ämtertausch mit Dimitrij Medwedjew im Jahr 2012. Das Charakteristische an Autokraten wie Putin sei es, so der Mittelalter-Historiker Karl Ubl von der Uni Köln, dass sie nicht in einem Rechtsstaat agieren, sondern die Verfassung sich selbst anpassen. Es sind Volksbefragungen, scheinbar faire Urnengänge. Im Gegensatz zu historischen Figuren legitimieren sich die Autokraten von heute eben stark über Wahlen, so Ubl, selbst wenn diese nur eine Maskerade sind.
Es sei erstaunlich, wie sehr Putin, auch wenn es nur zum Schein ist, die formellen Regeln befolge, sagt Wehowski dazu. Das Zulassen von (nicht ernst zu nehmenden) Gegenkandidaten bei Wahlen zum Beispiel. Die zumindest formell unabhängige Justiz. Doch das Kalkül dahinter sei auch, zu zeigen: Schaut, wir sind ein Rechtsstaat!
Und letztlich sei er auf die Technokraten und Silowiki – Vertreter der Militärs und Geheimdienste – auch angewiesen, so sehr er ihren Einfluss schon beschnitten hat. Doch sollten die Silowiki sich geschlossen gegen Putin stellen – er hätte ein Problem. Um bei Stalin und den Diktaturen des 20. Jahrhunderts
zu bleiben: Diese hatten neben dem Diktator weitere Machtträger. Sei es die Partei, die Geheimpolizei, oder andere gleich geschaltete Institutionen – sie waren die Pfeiler an der Basis. Eine Art ideologiebehaftete Massenpartei fehlt in Putins Russland. Freilich: „Einiges Russland“trägt Putins Politik und hat ihre Strukturen im ganzen Land, doch ist auch die Partei auf seine Person zugeschnitten. Und was die Ideologie dieser Partei betrifft, darüber gibt es viele Debatten.
Der Historiker und FaschismusForscher Hans-Ulrich Thamer sagt: „Seine Ideologie hat eine gewisse Beliebigkeit. Es sind pseudohistorische Begründungen. Man könnte sogar ideologiebefreit sagen. Das System Putin ist eine einzige Konstruktion von Mythen und Lügen.“Putin mag für seinen Machterhalt auf den Staatsapparat angewiesen sein, aber sein System ist eine personalistische Herrschaft, wie Thamer betont. Während früher Massenorganisationen die komplette Integration des Einzelnen anstrebten, eben im Namen einer Ideologie, steht im Putinschen System nur er selbst als Heilsbringer im Mittelpunkt, einer, der mit diffusen Erklärungen Russland zu neuer Größe verhelfen will, zur früheren imperialen Bedeutung. Einer, der die Dinge wieder ins rechte Licht rückt. Wehowski weist darauf hin, dass sich Putin schon während des Tschetschenien-Krieges als Träger der Ordnung inszeniert hatte.
Jasager im Umfeld. Freilich war auch Putins Aufstieg ein Prozess. Er gewann Wahlen, die er auch ohne Manipulation gewonnen hätte. Und Putin kam zugute, dass sein Aufstieg in eine Zeit fiel, in der die Regeln einer bipolaren Weltordnung nicht mehr galten, sich die globalen Verhältnisse verschoben und somit neue Unsicherheiten entstanden. Der viel bemühte Vergleich Putins mit Iwan IV. rührt auch daher, weil sich bei beiden ein Abgleiten in die Tyrannei ablesen lässt. Historiker Karl Ubl sagt jedoch, dass die TyrannisDiskussion eher ein politischer Kampfbegriff sei als ein Instrument zur Analyse, zumal der Tyrann in seiner langen Begriffsgeschichte als ein Gegenpart zum Monarchen verstanden wurde.
Doch Ubl sagt auch: Die detailgetreu beschriebenen Mechanismen, die Aristoteles dem Tyrannen zuschrieb, seien nach wie vor zu beobachten. Tyrannen fangen Kriege an, sie bauen einen Überwachungsstaat auf, sie säen Misstrauen und sie zerstören Vertrauen, ihre Propaganda durchsetzt die Gesellschaft. Der Tyrann ist ein Mensch, der sich zunehmend abkapselt, sein Umfeld besteht aus Jasagern, er vertraut niemandem, am Ende nicht einmal seinem Umfeld.
Zwischen ihm und der Außenwelt kappen irgendwann alle Kommunikationswege. So ist auch das Ende des Tyrannen immer vorgeschrieben: die Gewaltspirale, der Tyrannenmord. Der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt von der US-Universität Harvard hat den Tyrannen aus Sicht von Shakespeare charakterisiert: Arrogant in höchstem Maße, er erwartet absolute
Der Zar war ein autokratischer Herrscher, mehr als in Monarchien anderer Länder.
von sich. Rund um das Gefängnis der Stadt sind heute noch Spuren des Großangriffs von Ende Jänner zu sehen. Mauern weisen Einschusslöcher auf. Daneben liegen Trümmerteile.
„Die Attacke startete entlang dieser Straße“, berichtet Syamand Ali und deutet auf die breite Fahrbahn vor dem Gefängnis. Das Areal ist mit einer Mauer und Wachtürmen gesichert. Der Wind bewegt gelbe Wimpel mit rotem Stern, Banner der Volksverteidigungseinheiten (YPG). Syamand Ali ist Chef des Medienbüros der YPG in Nordund Ostsyrien. Die meist kurdischen Kämpfer der YPG sind das Rückgrat der SDF-Truppen.
„Zu Beginn haben die IS-Terroristen drei Autos voller Sprengstoff nahe dem Gefängnis in die Luft gejagt, um Chaos zu stiften“, berichtet Syamand Ali. Bei einer Tankstelle setzten sie zehn Tanklaster in Brand. „Zugleich griffen sie auf Motorrädern an.“Dann drangen sie ins Gefängnis ein. „Unsere Spezialkräfte zogen einen Ring um das Areal, um einen Massenausbruch zu verhindern“, berichtet Syamand Ali. „Der IS kam mit weiteren sechs Fahrzeugen voller Bewaffneter. Aber wir haben sie alle getötet.“Dann aktivierte der IS Schläferzellen in der Stadt. Die
Sicherheitskräfte, die das Gebiet um das Gefängnis bewachten, wurden von mehreren Seiten angegriffen. Rasch wurde klar: Das war nicht nur eine begrenzte Attacke. Die Jihadisten wollten ihre 5000 Gefolgsleute befreien – und dann ganz Hasakah übernehmen.
„Der IS wurde im Irak in Mossul geschlagen. Wir haben ihn in Syrien in seiner Hauptstadt, Raqqa, besiegt. Jetzt wollten sie ihr Kalifat in Hasakah errichten“, sagt Syamand Ali. Der Chef des YPG-Medienbüros warnt vor neuen IS-Befreiungsversuchen. „Wir bewachen 23 Gefängnisse mit IS-Kämpfern. Viele davon sind Ausländer“, sagt er. Syamand Ali spricht von einem Sicherheitsrisiko, fordert internationale Hilfe und eine Rücknahme ausländischer IS-Anhänger durch ihre Staaten. „Wenn keine Lösung gefunden wird, ist das eine Zeitbombe.“
In der Blütezeit des IS zogen Menschen aus verschiedensten Ländern in das „Kalifat“, aus arabischen Staaten, Zentralasien, aber auch aus Europa – darunter viele Frauen. Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien hat nun nicht nur ehemalige Kämpfer, sondern auch Zehntausende weitere IS-Anhänger in ihrer
Obhut: Angehörige von Kämpfern; Zivilisten, die im
Die Jihadisten wollten 5000 Gefolgsleute befreien – und ganz Hasakah übernehmen.