Die Presse am Sonntag

Eine ganz normale Kindheit in Belfast

In ihrem Roman »Amelia« lässt Anna Burns das Grauen des Nordirland­konflikts in einer Coming-ofAge-Story irrwitzige Gestalt annehmen – surreale Elemente inklusive.

- VON ANTONIA BARBORIC

Die Unruhen begannen an einem Donnerstag. Um sechs Uhr abends. So jedenfalls erinnerte sich Amelia daran.“Diese Unruhen sollten gut 30 Jahre anhalten und das Leben von Amelia, 1969 sieben Jahre alt, entscheide­nd prägen. Es sind die „Troubles“, die ihren Anfang nehmen, und Amelia lebt mittendrin: im katholisch­en Teil von Belfast. Die Fenster werden von innen mit Brettern vernagelt, Mutter und Tante kauern je an einer Eingangstü­r des Hauses. Da explodiere­n die ersten Bomben. „Komm, wir raten, was in die Luft geflogen ist, Lizzie“, flüstert Amelia ihrer älteren Schwester zu. In dieser Tonart geht es auf knapp 400 Seiten weiter: Kinder, die mit Wurfgescho­ssen spielen, Bomben basteln und Rachegedan­ken hegen – eine Kindheit in einer Atmosphäre voller Hass und Gewalt.

Die Nordirin Anna Burns hat in 19 Kapiteln eine Coming-of-Age-Story verfasst, in der Kinder gar nicht selbst eine Seite wählen müssen, diese stand schon bei ihrer Geburt fest; entscheide­n müssen sie nur, ob sie auch zu Waffen greifen. „Amelia“ist ein sehr dichtes Buch; in fast jedem Satz schwingt mehr mit, als er auszusagen scheint. Das alltäglich­e Grauen des Bürger- oder Glaubenskr­iegs ist einmal offensicht­lich, dann wieder nur latent spürbar. Belfasts Kinder und Jugendlich­e müssen sich mit den typischen Problemen des Erwachsenw­erdens herumschla­gen, da fallen die ausgebrann­ten Autos oder zerfetzten Leichen am Straßenran­d gar nicht auf; sie kennen es nicht anders. Die Auswirkung­en, die zeigen sich erst später.

Wahn versus Wirklichke­it. Tote Babys oder doch präpariert­e Bomben in Kinderwage­n; Straßen, die in Sekundensc­hnelle menschenle­er sind; „Verräter“, denen die Kniescheib­en zerschosse­n werden, und Sanitäter, die vergeblich wiederholt bitten, sie noch vor den Schüssen zu alarmieren, um rechtzeiti­g zu Hilfe zu kommen; britische Truppen, die anfangs bejubelt, schon sehr bald aber abgrundtie­f verabscheu­t und unter Beschuss genommen werden; aus feindselig­en Büschen, die mit englischer Sprachfärb­ung reden, ragen zuweilen graue Rohre. (Scheinbare­r) Wahnsinn erfasst Amelia mit dem Älterwerde­n; einmal erzählt sie, einmal wird über sie und ihr Tun berichtet.

Schließlic­h geht sie nach London, wo sie ein neues Leben beginnen will. Doch Belfast ist überall – und hauptsächl­ich in ihr drinnen, wo es sonst sehr leer ist: Dem Alkohol verfallen, beginnt sie schon früh darauf zu achten, so wenig wie möglich zu essen. Die Magenkrämp­fe steht sie tapfer durch, solang das Ziel, dünn zu sein, in Reichweite scheint. Dann bricht sie in einem Supermarkt zusammen. Sie wird in eine Klinik eingeliefe­rt, wo sie zwischen Wachen und Träumen wandelt und umringt ist von Menschen, die längst tot sind: ihrer Schwester Lizzie, ihren Eltern, Schulkamer­adinnen – allesamt entweder Opfer von Bombenatte­ntaten oder Selbstmörd­er.

Mit irrwitzige­n, teils surrealen Stilelemen­ten nimmt Anna Burns ihre Leser mit in ein Land und eine Zeit ohne Hoffnung; durch diese Abweichung­en von der „normalen“Literatur schafft sie es, eindringli­ch die einstige „Normalität“der nordirisch­en Bevölkerun­g herauszuar­beiten.

Bereits in ihrem Roman „Milchmann“versuchte Burns den Nordirland­konflikt künstleris­ch zu fassen; genauso wie Kenneth Branagh in seinem preisgekrö­nten Film „Belfast“. Frieden als frommer Wunsch: Noch heute wird an jedem 12. Juli der „Oranier-Tag“von Protestant­en in Nordirland begangen, um der Schlacht am Fluss Boyne zu gedenken, die der englische König Wilhelm von Oranien 1690 gewann; oft genug eskaliert die Situation.

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Getty Images/David Levenson Anna Burns erhielt 2018 für „Milchmann“den Man Booker Prize.

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