Eine ganz normale Kindheit in Belfast
In ihrem Roman »Amelia« lässt Anna Burns das Grauen des Nordirlandkonflikts in einer Coming-ofAge-Story irrwitzige Gestalt annehmen – surreale Elemente inklusive.
Die Unruhen begannen an einem Donnerstag. Um sechs Uhr abends. So jedenfalls erinnerte sich Amelia daran.“Diese Unruhen sollten gut 30 Jahre anhalten und das Leben von Amelia, 1969 sieben Jahre alt, entscheidend prägen. Es sind die „Troubles“, die ihren Anfang nehmen, und Amelia lebt mittendrin: im katholischen Teil von Belfast. Die Fenster werden von innen mit Brettern vernagelt, Mutter und Tante kauern je an einer Eingangstür des Hauses. Da explodieren die ersten Bomben. „Komm, wir raten, was in die Luft geflogen ist, Lizzie“, flüstert Amelia ihrer älteren Schwester zu. In dieser Tonart geht es auf knapp 400 Seiten weiter: Kinder, die mit Wurfgeschossen spielen, Bomben basteln und Rachegedanken hegen – eine Kindheit in einer Atmosphäre voller Hass und Gewalt.
Die Nordirin Anna Burns hat in 19 Kapiteln eine Coming-of-Age-Story verfasst, in der Kinder gar nicht selbst eine Seite wählen müssen, diese stand schon bei ihrer Geburt fest; entscheiden müssen sie nur, ob sie auch zu Waffen greifen. „Amelia“ist ein sehr dichtes Buch; in fast jedem Satz schwingt mehr mit, als er auszusagen scheint. Das alltägliche Grauen des Bürger- oder Glaubenskriegs ist einmal offensichtlich, dann wieder nur latent spürbar. Belfasts Kinder und Jugendliche müssen sich mit den typischen Problemen des Erwachsenwerdens herumschlagen, da fallen die ausgebrannten Autos oder zerfetzten Leichen am Straßenrand gar nicht auf; sie kennen es nicht anders. Die Auswirkungen, die zeigen sich erst später.
Wahn versus Wirklichkeit. Tote Babys oder doch präparierte Bomben in Kinderwagen; Straßen, die in Sekundenschnelle menschenleer sind; „Verräter“, denen die Kniescheiben zerschossen werden, und Sanitäter, die vergeblich wiederholt bitten, sie noch vor den Schüssen zu alarmieren, um rechtzeitig zu Hilfe zu kommen; britische Truppen, die anfangs bejubelt, schon sehr bald aber abgrundtief verabscheut und unter Beschuss genommen werden; aus feindseligen Büschen, die mit englischer Sprachfärbung reden, ragen zuweilen graue Rohre. (Scheinbarer) Wahnsinn erfasst Amelia mit dem Älterwerden; einmal erzählt sie, einmal wird über sie und ihr Tun berichtet.
Schließlich geht sie nach London, wo sie ein neues Leben beginnen will. Doch Belfast ist überall – und hauptsächlich in ihr drinnen, wo es sonst sehr leer ist: Dem Alkohol verfallen, beginnt sie schon früh darauf zu achten, so wenig wie möglich zu essen. Die Magenkrämpfe steht sie tapfer durch, solang das Ziel, dünn zu sein, in Reichweite scheint. Dann bricht sie in einem Supermarkt zusammen. Sie wird in eine Klinik eingeliefert, wo sie zwischen Wachen und Träumen wandelt und umringt ist von Menschen, die längst tot sind: ihrer Schwester Lizzie, ihren Eltern, Schulkameradinnen – allesamt entweder Opfer von Bombenattentaten oder Selbstmörder.
Mit irrwitzigen, teils surrealen Stilelementen nimmt Anna Burns ihre Leser mit in ein Land und eine Zeit ohne Hoffnung; durch diese Abweichungen von der „normalen“Literatur schafft sie es, eindringlich die einstige „Normalität“der nordirischen Bevölkerung herauszuarbeiten.
Bereits in ihrem Roman „Milchmann“versuchte Burns den Nordirlandkonflikt künstlerisch zu fassen; genauso wie Kenneth Branagh in seinem preisgekrönten Film „Belfast“. Frieden als frommer Wunsch: Noch heute wird an jedem 12. Juli der „Oranier-Tag“von Protestanten in Nordirland begangen, um der Schlacht am Fluss Boyne zu gedenken, die der englische König Wilhelm von Oranien 1690 gewann; oft genug eskaliert die Situation.