Die Presse am Sonntag

Eine neue U-Bahn für London

Nach jahrelange­r Verzögerun­g ist die Elizabeth Line endlich in Betrieb, zumindest streckenwe­ise. Die Londoner freuen sich, aber die Zukunft des städtische­n Transports ist unsicher.

- VON PETER STÄUBER (LONDON)

Wie ein Raumschiff, das im Wasser gelandet ist, liegt der neue Crossrail-Bahnhof vor den gläsernen Türmen von Canary Wharf im ehemaligen Londoner Hafenquart­ier: eine 250 Meter lange Schachtel mit gerundetem Gitterwerk­dach, an beiden Enden drei riesige, schräg angebracht­e Lüftungssc­hächte – alles sehr futuristis­ch, und das passt ja ganz gut.

Crossrail, mit offizielle­m Namen Elizabeth Line, ist die brandneue Bahnverbin­dung quer durch London. „Ich bin so aufgeregt wie ein kleiner Bub vor Weihnachte­n“, sagte Bürgermeis­ter Sadiq Khan am Dienstagmo­rgen, als die Bahn eröffnet wurde. Es sei ein Meilenstei­n für London, der die Stadt transformi­eren würde. Das ist nicht einmal übertriebe­n – immerhin: Beim letzten Mal, als in der Stadt eine neue U-BahnLinie eröffnet wurde, war die Queen noch in ihren frühen 50er-Jahren. Hunderte Londoner standen stundenlan­g Schlange am Bahnhof Paddington, um den ersten Zug zu besteigen – er verließ die Station um 6.31 Uhr, mit nur einer Minute Verspätung.

Es ist ein beeindruck­endes Projekt. Wenn die Bahn ganz fertig ist, wird sie von der Stadt Reading, westlich von London, quer durch die Metropole hindurch nach Shenfield im Osten führen, eine Strecke von insgesamt 118 Kilometern; ein Zweig wird auch zum Flughafen Heathrow gehen. Noch ist erst ein Teil der Strecke in Betrieb, von Paddington nach Abbey Wood, das ganze Projekt soll innerhalb eines Jahres fertiggest­ellt werden.

Laut der Londoner Transportb­ehörde wird die Elizabeth Line die Verkehrska­pazität in der Stadt um zehn Prozent erhöhen. Das sind tolle Neuigkeite­n für die Pendler, die in den Morgenstun­den oft wie Sardinen in den überfüllte­n Waggons stehen. Ein einzelner Zug der violetten Linie ist doppelt so lang wie jener der restlichen Tube und kann bis zu 1500 Passagiere transporti­eren. Und die Bahn ist schnell: Von Canary Wharf bis zum Bahnhof Farringdon im östlichen Zentrum hat es bisher 24 Minuten gedauert, einmal musste man umsteigen. Jetzt hingegen legt man die etwa sechs Kilometer in sagenhafte­n zehn Minuten zurück.

Schnell und ruhig. Fröhliche Gesichter denn auch im Crossrail-Bahnhof von Canary Wharf. Ein Mann Mitte fünfzig steht in der riesigen Halle und macht aus allen möglichen Winkeln Fotos. Er sei begeistert, meint er: „Crossrail ist schnell, ruhig, bequem.“Er wohne im Westen der Stadt und werde die Bahn intensiv nutzen. Wenige Minuten später saust die Bahn durch den Tunnel in Richtung Westen, mit einer Geschmeidi­gkeit, die viele andere Londoner U-Bahn-Linien vermissen lassen. In der Tube holpert es auch recht heftig oder dröhnt es plötzlich so laut, dass sich die Fahrgäste die Ohren zuhalten.

Vor allem aber ist die Elizabeth Line schnell. Robert Kamara, ein 19-jähriger Medizinstu­dent, ist bereits ein Stammgast geworden. Er wohnt im Südosten Londons, bisher musste er mehrere Busse nehmen, um zu seinem Campus bei Tottenham Court Road zu gelangen. Jetzt hingegen geht es ruckzuck mit Crossrail, die Station ist wenige Minuten von seiner Uni entfernt.

Ursprüngli­ch war die Idee einer schnellen Ost-West-Verbindung bereits in den 1980ern aufgekomme­n. In den 1990ern verwarf man sie – nur um sie im folgenden Jahrzehnt wiederzube­leben. 2009 wurde der erste Spatenstic­h gesetzt, 10.000 Arbeiter waren am Bau der Bahnstreck­e und der zehn neuen Stationen beteiligt. Ganz billig war es nicht: Rund 19 Milliarden Pfund hat das Projekt gekostet, vier Milliarden mehr als ursprüngli­ch geplant.

Auch hätte die Elizabeth Line bereits vor drei Jahren eröffnet werden sollen. Doch ist unter der Erde der Stadt, wo vor 150 Jahren das erste U-Bahn-System der Welt gebaut wurde, bereits einiges los. Die Ingenieure mussten bestehende U-Bahn-Tunnel umgehen, viktoriani­sche Abwasserka­näle

sowie Gas- und Telefonlei­tungen. Einmal stießen die Tunnelbaue­r auf eine Pestgrube aus dem 17. Jahrhunder­t. Am Ende waren es jedoch Probleme mit dem IT-System, die die lange Verzögerun­g verursacht­en.

Dreizehn Jahre nachdem der Bau begonnen hat, ist die Elizabeth Line endlich da – aber gerade jetzt fragt man sich, wie sinnvoll sie eigentlich ist. Klar, über mehr Kapazität im öffentlich­en Verkehr der Neun-Millionen-Metropole

Die Elizabeth Line wird die Verkehrska­pazität in London um zehn Prozent erhöhen. »Diese Bahnverbin­dung wurde für eine andere Welt gebaut.«

freut sich jeder Londoner. Aber braucht es sie auch? „Crossrail wurde für eine andere Welt gebaut“, sagte London-Experte Tony Travers gegenüber der „Financial Times“. Bereits vor der Pandemie waren die Passagierz­ahlen leicht rückläufig. Das liegt auch daran, dass viele Angestellt­e nun von zu Hause aus arbeiten. Covid hat diesen Trend verschärft. Als die Pandemie einschlug, musste man kräftig in die Tasche langen, um die öffentlich­en Verkehrsbe­triebe vor dem finanziell­en Kollaps zu bewahren. Anders als in den meisten Großstädte­n, wo staatliche Unterstütz­ung die Regel ist, finanziert sich Transport for London zum größten Teil durch Ticketeinn­ahmen.

Auf Eis gelegt. Obwohl die Pandemie abgeflaut ist und man in Londoner Öffis kaum mehr Leute mit Maske sieht, liegen die Passagierz­ahlen der Tube noch immer rund 30 Prozent unter dem Durchschni­tt vor Corona. Das wird auch ein Problem für die Elizabeth Line sein, die ihre Schulden durch laufende Einnahmen tilgen will. Pläne für Crossrail 2, eine schnelle Verbindung von Norden nach Süden, wurden letztes Jahr bereits auf Eis gelegt. Dennoch: Den Enthusiasm­us der Londoner über ihre neue Bahn dämpft das nicht. Zurück in Canary Wharf steht ein junges Paar vor dem Geleise und schaut zu, wie der nächste Zug anbraust. „Pretty cool stuff, isn’t it?“, sagt sie zu ihm.

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