Eine neue U-Bahn für London
Nach jahrelanger Verzögerung ist die Elizabeth Line endlich in Betrieb, zumindest streckenweise. Die Londoner freuen sich, aber die Zukunft des städtischen Transports ist unsicher.
Wie ein Raumschiff, das im Wasser gelandet ist, liegt der neue Crossrail-Bahnhof vor den gläsernen Türmen von Canary Wharf im ehemaligen Londoner Hafenquartier: eine 250 Meter lange Schachtel mit gerundetem Gitterwerkdach, an beiden Enden drei riesige, schräg angebrachte Lüftungsschächte – alles sehr futuristisch, und das passt ja ganz gut.
Crossrail, mit offiziellem Namen Elizabeth Line, ist die brandneue Bahnverbindung quer durch London. „Ich bin so aufgeregt wie ein kleiner Bub vor Weihnachten“, sagte Bürgermeister Sadiq Khan am Dienstagmorgen, als die Bahn eröffnet wurde. Es sei ein Meilenstein für London, der die Stadt transformieren würde. Das ist nicht einmal übertrieben – immerhin: Beim letzten Mal, als in der Stadt eine neue U-BahnLinie eröffnet wurde, war die Queen noch in ihren frühen 50er-Jahren. Hunderte Londoner standen stundenlang Schlange am Bahnhof Paddington, um den ersten Zug zu besteigen – er verließ die Station um 6.31 Uhr, mit nur einer Minute Verspätung.
Es ist ein beeindruckendes Projekt. Wenn die Bahn ganz fertig ist, wird sie von der Stadt Reading, westlich von London, quer durch die Metropole hindurch nach Shenfield im Osten führen, eine Strecke von insgesamt 118 Kilometern; ein Zweig wird auch zum Flughafen Heathrow gehen. Noch ist erst ein Teil der Strecke in Betrieb, von Paddington nach Abbey Wood, das ganze Projekt soll innerhalb eines Jahres fertiggestellt werden.
Laut der Londoner Transportbehörde wird die Elizabeth Line die Verkehrskapazität in der Stadt um zehn Prozent erhöhen. Das sind tolle Neuigkeiten für die Pendler, die in den Morgenstunden oft wie Sardinen in den überfüllten Waggons stehen. Ein einzelner Zug der violetten Linie ist doppelt so lang wie jener der restlichen Tube und kann bis zu 1500 Passagiere transportieren. Und die Bahn ist schnell: Von Canary Wharf bis zum Bahnhof Farringdon im östlichen Zentrum hat es bisher 24 Minuten gedauert, einmal musste man umsteigen. Jetzt hingegen legt man die etwa sechs Kilometer in sagenhaften zehn Minuten zurück.
Schnell und ruhig. Fröhliche Gesichter denn auch im Crossrail-Bahnhof von Canary Wharf. Ein Mann Mitte fünfzig steht in der riesigen Halle und macht aus allen möglichen Winkeln Fotos. Er sei begeistert, meint er: „Crossrail ist schnell, ruhig, bequem.“Er wohne im Westen der Stadt und werde die Bahn intensiv nutzen. Wenige Minuten später saust die Bahn durch den Tunnel in Richtung Westen, mit einer Geschmeidigkeit, die viele andere Londoner U-Bahn-Linien vermissen lassen. In der Tube holpert es auch recht heftig oder dröhnt es plötzlich so laut, dass sich die Fahrgäste die Ohren zuhalten.
Vor allem aber ist die Elizabeth Line schnell. Robert Kamara, ein 19-jähriger Medizinstudent, ist bereits ein Stammgast geworden. Er wohnt im Südosten Londons, bisher musste er mehrere Busse nehmen, um zu seinem Campus bei Tottenham Court Road zu gelangen. Jetzt hingegen geht es ruckzuck mit Crossrail, die Station ist wenige Minuten von seiner Uni entfernt.
Ursprünglich war die Idee einer schnellen Ost-West-Verbindung bereits in den 1980ern aufgekommen. In den 1990ern verwarf man sie – nur um sie im folgenden Jahrzehnt wiederzubeleben. 2009 wurde der erste Spatenstich gesetzt, 10.000 Arbeiter waren am Bau der Bahnstrecke und der zehn neuen Stationen beteiligt. Ganz billig war es nicht: Rund 19 Milliarden Pfund hat das Projekt gekostet, vier Milliarden mehr als ursprünglich geplant.
Auch hätte die Elizabeth Line bereits vor drei Jahren eröffnet werden sollen. Doch ist unter der Erde der Stadt, wo vor 150 Jahren das erste U-Bahn-System der Welt gebaut wurde, bereits einiges los. Die Ingenieure mussten bestehende U-Bahn-Tunnel umgehen, viktorianische Abwasserkanäle
sowie Gas- und Telefonleitungen. Einmal stießen die Tunnelbauer auf eine Pestgrube aus dem 17. Jahrhundert. Am Ende waren es jedoch Probleme mit dem IT-System, die die lange Verzögerung verursachten.
Dreizehn Jahre nachdem der Bau begonnen hat, ist die Elizabeth Line endlich da – aber gerade jetzt fragt man sich, wie sinnvoll sie eigentlich ist. Klar, über mehr Kapazität im öffentlichen Verkehr der Neun-Millionen-Metropole
Die Elizabeth Line wird die Verkehrskapazität in London um zehn Prozent erhöhen. »Diese Bahnverbindung wurde für eine andere Welt gebaut.«
freut sich jeder Londoner. Aber braucht es sie auch? „Crossrail wurde für eine andere Welt gebaut“, sagte London-Experte Tony Travers gegenüber der „Financial Times“. Bereits vor der Pandemie waren die Passagierzahlen leicht rückläufig. Das liegt auch daran, dass viele Angestellte nun von zu Hause aus arbeiten. Covid hat diesen Trend verschärft. Als die Pandemie einschlug, musste man kräftig in die Tasche langen, um die öffentlichen Verkehrsbetriebe vor dem finanziellen Kollaps zu bewahren. Anders als in den meisten Großstädten, wo staatliche Unterstützung die Regel ist, finanziert sich Transport for London zum größten Teil durch Ticketeinnahmen.
Auf Eis gelegt. Obwohl die Pandemie abgeflaut ist und man in Londoner Öffis kaum mehr Leute mit Maske sieht, liegen die Passagierzahlen der Tube noch immer rund 30 Prozent unter dem Durchschnitt vor Corona. Das wird auch ein Problem für die Elizabeth Line sein, die ihre Schulden durch laufende Einnahmen tilgen will. Pläne für Crossrail 2, eine schnelle Verbindung von Norden nach Süden, wurden letztes Jahr bereits auf Eis gelegt. Dennoch: Den Enthusiasmus der Londoner über ihre neue Bahn dämpft das nicht. Zurück in Canary Wharf steht ein junges Paar vor dem Geleise und schaut zu, wie der nächste Zug anbraust. „Pretty cool stuff, isn’t it?“, sagt sie zu ihm.