Was es heuer in Cannes zu entdecken gab
Sind die Filmfeststpiele an der Cˆote d’Azur ein Bollwerk der siebten Kunst gegen die Streaming-Horden? Oder ein Hort weltfremder Modernisierungsverweigerer? Die 75. Ausgabe des Festivals ließ beide Antworten zu – und zeigte neben alten Meistern auch genü
Evolution ist unaufhaltsam, die Frage ist nur, wie wir mit ihr umgehen: So lautet eine der Botschaften des OEuvres von David Cronenberg. Auch die jüngste Arbeit des kanadischen Kultfilmers beschäftigt sich mit den notgedrungenen Metamorphosen einer Menschheit, die den Problemen ihrer selbst geschaffenen Welt nicht mehr gewachsen ist.
Im starken Science-Fiction-Stück „Crimes of the Future“, das heuer bei den Filmfestspielen von Cannes Premiere feierte, hat Homo sapiens aus nicht näher erläuterten Gründen sein Schmerzempfinden verloren. Auf der Suche nach Gefühlskicks sind LiveOperationen am eigenen Körper der letzte Schrei. Der Konzeptkünstler Saul Tenser (großartig: Viggo Mortensen) ist ein Star der Chirurgie-Fetisch-Szene. Neue Organe, die sein Leib unter biologischem Anpassungsdruck produziert, lässt er sich vor staunendem Publikum von seiner Assistentin (Le´a Seydoux) aus dem Leib schneiden. Zum Leidwesen einer Untergrundgruppe, die Tenser für einen Propheten hält: Mutationen seien die letzte Hoffnung der Spezies, um ihrer künstlich veränderten Umwelt Paroli zu bieten. Etwa mit einem Verdauungstrakt, der eine Ernährung durch Plastikabfall ermöglicht.
So grotesk und verquast dieser Plot klingt, so klug, humorvoll und stilsicher gerät Cronenbergs Umsetzung. Nicht nur Problemherde unserer Gegenwart – Klimawandel, Umweltverschmutzung,
Abstumpfung durch (mediale) Reizüberflutung – zeichnen sich im moralisch neutralen Zerrspiegel ab. Auch die Bruchstellen des Festivals, bei dem der Film im Wettbewerb läuft, lassen sich darin erkennen.
Cannes ist eine Bastion der Tradition. Das zeigt sich auch an der prominenten Programmplatzierung von Cronenbergs erstem Film seit acht Jahren. 2016 klagte der heute 79-Jährige noch über die Schwierigkeit, neue Projekte zu finanzieren. Doch auf die Treue von Cannes konnte er sich als Stammgast verlassen. Diese loyale Haltung ist zugleich
Cannes ist eine Bastion der Tradition. Das ist Fluch und Segen zugleich.
Fluch und Segen des Zentralevents einer Branche, die sich im drastischen Umbruch befindet. Sicher wird Cannes so seinem Ruf eines Bollwerks der Filmkunst im Streaming-Zeitalter gerecht. Künstler wie Cronenberg, deren grenzgängerischer Stil in den algorithmisch abgesicherten Contentmanufakturen der Streamingdienste keinen Platz hat, werden auf der Croisette noch immer gebührend gefeiert.
In einem Interview mit dem Branchenblatt Variety ließ Cronenberg verlauten, Netflix habe „Crimes of the Future“abgelehnt – und bezichtigte die Firma des Konservatismus. Das dürfte den Cannes-Intendanten Thierry Fre´maux freuen. Im Unterschied zu anderen A-Festivals wie Berlin und Venedig sperrt sich seine Veranstaltung weithin gegen Netflix-Produktionen im Wettbewerb – auch, weil die Firma keinen Filmvertrieb anbietet, der französische Kinobetreiber zufriedenstellen würde.
Netflix kauft ein. Auf dem Filmmarkt vor Ort, der heimlichen Hauptsache von Cannes, konnte Netflix freilich wieder satte Einkäufe tätigen. „Content“ist König, mehr ist mehr, Quantität geht vor Qualität: So lautet die Devise einer filmindustriellen Gegenwart, die am laufenden Band eine stetig wachsende Vielzahl global orientierter
Entertainment-Kanäle bespielen muss. Auch das Festival selbst hamstert fleißig. Das offizielle Programm seiner 75. Ausgabe zählte heuer zwar weniger Titel als letztes Jahr, aber deutlich mehr als vor Beginn der Coronapandemie. Was nicht nur am Produktionsrückstau liegt, sondern auch am aufgeheizten Wettkampf um Angebote.
Trotzdem fällt es einem Platzhirsch wie Cannes leicht, sich als Fels in der Brandung der Filmflut zu präsentieren. Was hier im Wettbewerb läuft, zählt zwar selten zur filmischen Avantgarde, zielt aber auch so gut wie nie auf beiläufigen Couchkonsum ab. Und gibt sich als Kinokunst mit großem „K“, die ehrfürchtig konzentrierte Wahrnehmung auf großer Leinwand im dunklen Saal einfordert: Kunstgenuss wider die
22 Filme
ritterten 2022 beim Filmfest von Cannes um den Hauptpreis der Goldenen Palme. Die Preisverleihung fand am späten Samstagabend statt.
2 Arbeiten aus Österreich
feierten in Nebenschienen des Festivals Premiere: Marie Kreutzers „Corsage“und „Staging Death“von Jan Soldat.
Im Streaming-Zeitalter ist »Content« König: Quantität geht vor Qualität.
Die Ukraine steht in einem existenziellen Kampf um ihre Zukunft. Über Nacht wurde uns durch den Kriegsausbruch bewusst, wie wenig wir eigentlich über den Osten Europas wissen.
Das neue „Presse“-Geschichte-Magazin erzählt über den Weg der ukrainischen Nation durch die Jahrhunderte.
Im Fokus stehen dabei die traumatischen Erfahrungen der Ukraine mit dem übermächtigen russischen Nachbarn und die Wurzeln eines Krieges, der die Welt verändert.
Jetzt bestellen zum Preis von 10 Euro, für Abonnent:innen der „Presse“um nur 8 Euro!