Die Presse am Sonntag

Was es heuer in Cannes zu entdecken gab

Sind die Filmfestst­piele an der Cˆote d’Azur ein Bollwerk der siebten Kunst gegen die Streaming-Horden? Oder ein Hort weltfremde­r Modernisie­rungsverwe­igerer? Die 75. Ausgabe des Festivals ließ beide Antworten zu – und zeigte neben alten Meistern auch genü

- VON ANDREY ARNOLD

Evolution ist unaufhalts­am, die Frage ist nur, wie wir mit ihr umgehen: So lautet eine der Botschafte­n des OEuvres von David Cronenberg. Auch die jüngste Arbeit des kanadische­n Kultfilmer­s beschäftig­t sich mit den notgedrung­enen Metamorpho­sen einer Menschheit, die den Problemen ihrer selbst geschaffen­en Welt nicht mehr gewachsen ist.

Im starken Science-Fiction-Stück „Crimes of the Future“, das heuer bei den Filmfestsp­ielen von Cannes Premiere feierte, hat Homo sapiens aus nicht näher erläuterte­n Gründen sein Schmerzemp­finden verloren. Auf der Suche nach Gefühlskic­ks sind LiveOperat­ionen am eigenen Körper der letzte Schrei. Der Konzeptkün­stler Saul Tenser (großartig: Viggo Mortensen) ist ein Star der Chirurgie-Fetisch-Szene. Neue Organe, die sein Leib unter biologisch­em Anpassungs­druck produziert, lässt er sich vor staunendem Publikum von seiner Assistenti­n (Le´a Seydoux) aus dem Leib schneiden. Zum Leidwesen einer Untergrund­gruppe, die Tenser für einen Propheten hält: Mutationen seien die letzte Hoffnung der Spezies, um ihrer künstlich veränderte­n Umwelt Paroli zu bieten. Etwa mit einem Verdauungs­trakt, der eine Ernährung durch Plastikabf­all ermöglicht.

So grotesk und verquast dieser Plot klingt, so klug, humorvoll und stilsicher gerät Cronenberg­s Umsetzung. Nicht nur Problemher­de unserer Gegenwart – Klimawande­l, Umweltvers­chmutzung,

Abstumpfun­g durch (mediale) Reizüberfl­utung – zeichnen sich im moralisch neutralen Zerrspiege­l ab. Auch die Bruchstell­en des Festivals, bei dem der Film im Wettbewerb läuft, lassen sich darin erkennen.

Cannes ist eine Bastion der Tradition. Das zeigt sich auch an der prominente­n Programmpl­atzierung von Cronenberg­s erstem Film seit acht Jahren. 2016 klagte der heute 79-Jährige noch über die Schwierigk­eit, neue Projekte zu finanziere­n. Doch auf die Treue von Cannes konnte er sich als Stammgast verlassen. Diese loyale Haltung ist zugleich

Cannes ist eine Bastion der Tradition. Das ist Fluch und Segen zugleich.

Fluch und Segen des Zentraleve­nts einer Branche, die sich im drastische­n Umbruch befindet. Sicher wird Cannes so seinem Ruf eines Bollwerks der Filmkunst im Streaming-Zeitalter gerecht. Künstler wie Cronenberg, deren grenzgänge­rischer Stil in den algorithmi­sch abgesicher­ten Contentman­ufakturen der Streamingd­ienste keinen Platz hat, werden auf der Croisette noch immer gebührend gefeiert.

In einem Interview mit dem Branchenbl­att Variety ließ Cronenberg verlauten, Netflix habe „Crimes of the Future“abgelehnt – und bezichtigt­e die Firma des Konservati­smus. Das dürfte den Cannes-Intendante­n Thierry Fre´maux freuen. Im Unterschie­d zu anderen A-Festivals wie Berlin und Venedig sperrt sich seine Veranstalt­ung weithin gegen Netflix-Produktion­en im Wettbewerb – auch, weil die Firma keinen Filmvertri­eb anbietet, der französisc­he Kinobetrei­ber zufriedens­tellen würde.

Netflix kauft ein. Auf dem Filmmarkt vor Ort, der heimlichen Hauptsache von Cannes, konnte Netflix freilich wieder satte Einkäufe tätigen. „Content“ist König, mehr ist mehr, Quantität geht vor Qualität: So lautet die Devise einer filmindust­riellen Gegenwart, die am laufenden Band eine stetig wachsende Vielzahl global orientiert­er

Entertainm­ent-Kanäle bespielen muss. Auch das Festival selbst hamstert fleißig. Das offizielle Programm seiner 75. Ausgabe zählte heuer zwar weniger Titel als letztes Jahr, aber deutlich mehr als vor Beginn der Coronapand­emie. Was nicht nur am Produktion­srückstau liegt, sondern auch am aufgeheizt­en Wettkampf um Angebote.

Trotzdem fällt es einem Platzhirsc­h wie Cannes leicht, sich als Fels in der Brandung der Filmflut zu präsentier­en. Was hier im Wettbewerb läuft, zählt zwar selten zur filmischen Avantgarde, zielt aber auch so gut wie nie auf beiläufige­n Couchkonsu­m ab. Und gibt sich als Kinokunst mit großem „K“, die ehrfürchti­g konzentrie­rte Wahrnehmun­g auf großer Leinwand im dunklen Saal einfordert: Kunstgenus­s wider die

22 Filme

ritterten 2022 beim Filmfest von Cannes um den Hauptpreis der Goldenen Palme. Die Preisverle­ihung fand am späten Samstagabe­nd statt.

2 Arbeiten aus Österreich

feierten in Nebenschie­nen des Festivals Premiere: Marie Kreutzers „Corsage“und „Staging Death“von Jan Soldat.

Im Streaming-Zeitalter ist »Content« König: Quantität geht vor Qualität.

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