Viel Lärm um die Ukraine
Das Festival zeigte neue ukrainische Filme und sammelte Geld. Beim russischen Kulturboykott schieden sich die Geister.
Manchen Cannes-Besuchern stockte letzte Woche das Blut in den Adern, als der Himmel über der Croisette plötzlich vom Wummern tieffliegender Militärjets erschüttert wurde. Doch die Kondensstreifen-Trikolore, die danach in den Wolken hing, gab augenfällig Entwarnung. Es handelte sich nur um einen PR-Stunt: Eine Kunstflugstaffel der französischen Luftwaffe lieferte so den patriotischen Theaterdonner für die Premiere des Tom-Cruise-Fliegerfilms „Top Gun 2“.
Am Mittwoch wurde das Festival dann vom heulenden Klang einer Luftschutzsirene erfüllt. Dieser hatte schon eher mit Krieg zu tun. Dennoch schreckte er weniger Menschen auf: Das Team des ukrainischen Films „Butterfly Vision“hatte den akustischen Protest vorab angekündigt. Auf der Freitreppe vor der Salle Debussy entrollte es ein Plakat mit dem Schriftzug: „Russians kill Ukrainians. Do you find it offensive or disturbing to talk about this genocide?“Dazu Tafeln, auf denen „Sensitive Content“stand.
Abseits des Videoauftritts von Wolodymyr Selenskij bei der Eröffnungsgala der Filmfestspiele zählte diese Aktion zu den markantesten Versuchen, den Krieg ins glamourgetrübte Bewusstsein von Cannes zu rufen. Ein anderer wurde schallgedämpft: Bei der Premiere des Fantasy-Märchens „Three Thousand Years of Longing“stürmte ein Mitglied der feministischen Aktivistengruppe Scum den roten Teppich. Mit entblößtem und blaugelb bemaltem Oberkörper schrie die Frau „Don’t rape us“, bis Sicherheitsleute sie weg eskortierten.
„Butterfly Vision“klagt ebenfalls die Vergewaltigung von Ukrainerinnen durch russische Soldaten an. Doch der junge Regisseur Maksym Nakonechnyi geht dabei subtiler vor. Sein vor der Invasion im Februar gedrehter Film handelt von einer Drohnenpilotin (Rita Burkovska), die schwanger aus russischer Gefangenschaft im Donbass zurückkehrt. In Kiew folgen wir ihr bei der Traumabewältigung. Wobei Nakonechnyi sich nicht scheut, auch mit den Schattenseiten ukrainischer Nationalismen ins Gericht zu gehen. Eine ebenso blutige wie ambitionierte Gangsterballade zeigte indes die unabhängige Nebenschiene Quinzaine des re´alisateurs: In „Pamfir“, dem Langspielfilmdebüt von Dmytro Sukholytkyy-Sobchuk, wird ein Ex-Schmuggler in der rumänisch-ukrainischen Grenzstadt Chernivtsi wieder in die Kriminalität gedrängt.
Präsenz = Propaganda? In einem Interview kritisierte Sukholytkyy-Sobchuk wie viele seiner Landsleute die Entscheidung des Festivals, einen Film des Russen Kirill Serebrennikow ins Programm aufzunehmen: „Wenn er hier ist, ist er Teil der russischen Propaganda, und sie können das nutzen.“Dass Serebrennikow sowohl bei der Premiere seines Wettbewerbsbeitrags „Tschaikowsky’s Wife“als auch in einem Essay deutlich gegen den Krieg Stellung bezogen hat, wird Befürworter eines Boykotts russischer Kultur kaum umstimmen – zumal Serebrennikows Text eben diese Kultur in Schutz nimmt.
Der in Kiew aufgewachsene Filmemacher Sergei Loznitsa wurde im März für eine ähnliche Haltung aus der ukrainischen Filmakademie ausgeschlossen. In Cannes feierte sein jüngstes Werk „The Natural History of Destruction“Premiere. Es montiert Archivmaterial des Flächenbombardements Nazideutschlands durch die Alliierten zu einem nicht nur moralisch komplexen Appell gegen unskrupulöse Kriegsführung gegen Zivilbevölkerung. Zumindest ein Zeichen für die Unterstützung ukrainischer (Film-)Kultur wurde in Cannes unmissverständlich gesetzt: Beim Event „Ukrainian Films Now“sammelten europäische Förderinstitutionen am Filmmarkt Geld für Produktionen aus der umkämpften Region.