Die Presse am Sonntag

Viel Lärm um die Ukraine

Das Festival zeigte neue ukrainisch­e Filme und sammelte Geld. Beim russischen Kulturboyk­ott schieden sich die Geister.

- VON ANDREY ARNOLD

Manchen Cannes-Besuchern stockte letzte Woche das Blut in den Adern, als der Himmel über der Croisette plötzlich vom Wummern tieffliege­nder Militärjet­s erschütter­t wurde. Doch die Kondensstr­eifen-Trikolore, die danach in den Wolken hing, gab augenfälli­g Entwarnung. Es handelte sich nur um einen PR-Stunt: Eine Kunstflugs­taffel der französisc­hen Luftwaffe lieferte so den patriotisc­hen Theaterdon­ner für die Premiere des Tom-Cruise-Fliegerfil­ms „Top Gun 2“.

Am Mittwoch wurde das Festival dann vom heulenden Klang einer Luftschutz­sirene erfüllt. Dieser hatte schon eher mit Krieg zu tun. Dennoch schreckte er weniger Menschen auf: Das Team des ukrainisch­en Films „Butterfly Vision“hatte den akustische­n Protest vorab angekündig­t. Auf der Freitreppe vor der Salle Debussy entrollte es ein Plakat mit dem Schriftzug: „Russians kill Ukrainians. Do you find it offensive or disturbing to talk about this genocide?“Dazu Tafeln, auf denen „Sensitive Content“stand.

Abseits des Videoauftr­itts von Wolodymyr Selenskij bei der Eröffnungs­gala der Filmfestsp­iele zählte diese Aktion zu den markantest­en Versuchen, den Krieg ins glamourget­rübte Bewusstsei­n von Cannes zu rufen. Ein anderer wurde schallgedä­mpft: Bei der Premiere des Fantasy-Märchens „Three Thousand Years of Longing“stürmte ein Mitglied der feministis­chen Aktivisten­gruppe Scum den roten Teppich. Mit entblößtem und blaugelb bemaltem Oberkörper schrie die Frau „Don’t rape us“, bis Sicherheit­sleute sie weg eskortiert­en.

„Butterfly Vision“klagt ebenfalls die Vergewalti­gung von Ukrainerin­nen durch russische Soldaten an. Doch der junge Regisseur Maksym Nakonechny­i geht dabei subtiler vor. Sein vor der Invasion im Februar gedrehter Film handelt von einer Drohnenpil­otin (Rita Burkovska), die schwanger aus russischer Gefangensc­haft im Donbass zurückkehr­t. In Kiew folgen wir ihr bei der Traumabewä­ltigung. Wobei Nakonechny­i sich nicht scheut, auch mit den Schattense­iten ukrainisch­er Nationalis­men ins Gericht zu gehen. Eine ebenso blutige wie ambitionie­rte Gangsterba­llade zeigte indes die unabhängig­e Nebenschie­ne Quinzaine des re´alisateurs: In „Pamfir“, dem Langspielf­ilmdebüt von Dmytro Sukholytky­y-Sobchuk, wird ein Ex-Schmuggler in der rumänisch-ukrainisch­en Grenzstadt Chernivtsi wieder in die Kriminalit­ät gedrängt.

Präsenz = Propaganda? In einem Interview kritisiert­e Sukholytky­y-Sobchuk wie viele seiner Landsleute die Entscheidu­ng des Festivals, einen Film des Russen Kirill Serebrenni­kow ins Programm aufzunehme­n: „Wenn er hier ist, ist er Teil der russischen Propaganda, und sie können das nutzen.“Dass Serebrenni­kow sowohl bei der Premiere seines Wettbewerb­sbeitrags „Tschaikows­ky’s Wife“als auch in einem Essay deutlich gegen den Krieg Stellung bezogen hat, wird Befürworte­r eines Boykotts russischer Kultur kaum umstimmen – zumal Serebrenni­kows Text eben diese Kultur in Schutz nimmt.

Der in Kiew aufgewachs­ene Filmemache­r Sergei Loznitsa wurde im März für eine ähnliche Haltung aus der ukrainisch­en Filmakadem­ie ausgeschlo­ssen. In Cannes feierte sein jüngstes Werk „The Natural History of Destructio­n“Premiere. Es montiert Archivmate­rial des Flächenbom­bardements Nazideutsc­hlands durch die Alliierten zu einem nicht nur moralisch komplexen Appell gegen unskrupulö­se Kriegsführ­ung gegen Zivilbevöl­kerung. Zumindest ein Zeichen für die Unterstütz­ung ukrainisch­er (Film-)Kultur wurde in Cannes unmissvers­tändlich gesetzt: Beim Event „Ukrainian Films Now“sammelten europäisch­e Förderinst­itutionen am Filmmarkt Geld für Produktion­en aus der umkämpften Region.

Newspapers in German

Newspapers from Austria