Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

Forscher sehen im historisch­en Venedig ein Musterbeis­piel für eine Balance zwischen Natur und Mensch. Deren Störung hat nun, in Verbindung mit dem Klimawande­l, fatale Folgen.

- BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT VON MARTIN KUGLER diepresse.com/wortderwoc­he

Venedig ist eine ganz besondere Stadt. Über viele Jahrhunder­te war sie ein politische­s, wirtschaft­liches und kulturelle­s Zentrum ersten Ranges – die vollständi­g erhaltenen historisch­en Zeugnisse davon sind heute die Basis für einen überborden­den Tourismus. Die Besonderhe­it Venedigs ist vor allem durch die Lage begründet: Als Insel in einer Lagune hatte die Stadt freien Zugang zum Meer und war zugleich gut geschützt.

Das Wasser war der Dreh- und Angelpunkt für die Venezianer, sie taten alles, um den Status quo zu erhalten: So wurden schon im 16. Jahrhunder­t Flüsse umgeleitet, schützende Wälder bewahrt, die Fischerei und die Wasserentn­ahme reguliert. Das resultiert­e in einer einzigarti­gen Situation, in der sich naturräuml­iche Faktoren und menschlich­es Handeln kaum mehr trennen lassen – es entstand „eine dynamische Balance zwischen Mensch und Natur“, wie es Forscher des Max-Planck-Instituts für Wissenscha­ftsgeschic­hte in Berlin und der Ca’Foscari-Universitä­t Venedig in dem interdiszi­plinären Projekt „The Water City“formuliere­n.

Nach dem Erlöschen der Republik wurde diese Balance allerdings massiv gestört: Die Wälder wurden abgeholzt, immer mehr Brunnen gebohrt, tiefe Schifffahr­tsrinnen ausgebagge­rt und die Verbindung­en zwischen offenem Meer und Lagune erweitert. Dadurch veränderte­n sich die Strömungsv­erhältniss­e, die Salzmarsch­en schrumpfte­n, die Erosion ist stärker denn je, die Stadt sinkt immer mehr ab – seit 1872 (dem Beginn exakter Aufzeichnu­ngen) um durchschni­ttlich 1,3 Millimeter pro Jahr.

Gleichzeit­ig steigt der Meeresspie­gel infolge des Klimawande­ls noch rascher, sodass Überschwem­mungen häufiger werden. Wie eine Forschergr­uppe um Christian Ferrarin (Ismar Venedig) nun zeigte, spielt dabei die Überlageru­ng vieler natürliche­r Wellen-Phänomene eine Rolle – von lokalen Stürmen und deren Folgen bis hin zu längerfris­tigen Oszillatio­nen des Meeresspie­gels, die von großräumig­en Luftdrucks­chwankunge­n und Meeresströ­mungen verursacht werden (Scientific Reports, 6. 4.). Die Forscher stellten fest, dass sich viele dieser Faktoren seit einiger Zeit, offenbar Hand in Hand mit dem Klimawande­l, verstärken.

Die Kombinatio­n aus höheren Wellen, steigendem Meeresspie­gel, absinkende­r Stadt und vermindert­em Schutz durch die Lagune bietet keine guten Aussichten für Venedig. Und daran kann längerfris­tig wohl auch das nagelneue Hochwasser­schutzsyst­em Mose nichts ändern.

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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