Denkwürdiger Abend für die gepeinigte Nation
Während die Ukraine um ihre Existenz kämpft, spielt das Nationalteam um das letzte WM-Ticket.
Resilienz ist längst auch in der Sportwelt ein weit verbreiteter Begriff, große Athleten sind mitunter Meister in dieser Disziplin. Doch das wohl größte Meisterstück in dieser Hinsicht wird heute in Cardiff zu beobachten sein. Nach durchwachten Nächten in Kellern und Bunkern, bangen Telefonaten mit der Heimat und zähen Trainingslagern im slowenischen Exil spielt die ukrainische Fußball-Nationalmannschaft heute in Wales (18 Uhr, live Dazn) um das letzte europäische Ticket für die WM in Katar.
Das erste Pflichtspiel der Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskriegs – ein denkwürdiges 3:1 am Mittwochabend in Glasgow – lässt nur einen Schluss zu: Die Ukrainer werden auch heute die Hürde Wales nehmen und im Gegensatz zu Russland, das aus der WM-Qualifikation gestrichen wurde, ihr Land in Katar vertreten.
Denn auf dem Platz ist bei dieser Mannschaft Einzigartiges spürbar. Trauernde, mitunter gebrochene Männer, die seit Monaten nicht müde werden, ihren Status als Fußballprofis zu nutzen, um tränenreich über die Leiden des Krieges zu erzählen, legen im Stadion plötzlich eine Ruhe und Abgeklärtheit an den Tag, die ihresgleichen sucht. Im Spiel der Ukraine herrscht keinerlei Hektik, sondern völlige Klarheit und Konzentration, selbst im Torjubel verliert man nicht die Fassung. Eine Mannschaft wie keine zweite, eingeschworen auf eine Mission und ein Ziel.
Dass kein Druck auf diesen Ukrainern lasten würde, sie ja nichts zu verlieren hätten, ist völlig falsch. Die Spieler wissen sehr genau, welche Symbolkraft die erst zweite Teilnahme der Ukraine an einer FußballWM hätte – und welche Auswirkungen der dafür nötige Sieg heute womöglich auf die Moral im Land. Der Druck, in einem so entscheidenden Spiel für ein Land aufzulaufen, das um seine Existenz kämpft, muss gewaltig sein.
Die Spieler wissen genau, welche Symbolkraft die erst zweite WM-Teilnahme hätte.
Und dennoch: Ilya Zabarnyi und Taras Stepanenko organisieren bisher eine souveräne Defensivabteilung, Kapitän Andriy Yarmolenko und Topstar Oleksandr Zinchenko (Manchester City) agieren makellos, Mittelstürmer Roman Yaremchuk ist zur Stelle, wenn es Tore braucht. Sie alle können für 90 Minuten wieder das tun, wofür sie ihr Leben lang trainiert haben, sie werden auch heute wieder alles, das sie haben, in dieses eine Fußballspiel werfen.
Die wahren Verlierer. Wales ist in diesem Szenario zu bedauern. Die Mannen um Gareth Bale werden, wie schon am Mittwoch die Schotten, von der Größe dieses Spiels, von der Bedeutung des Abends überwältigt werden. Und von ihren Emotionen, wenn die eigenen Anhänger – wie es auch die Schotten in ergreifender Art und Weise getan hatten – dem Gegner ihren Respekt bekunden. Sie sind es in Wahrheit, die an diesem Tag nur verlieren können. Wohl wissend, dass ihrem Rivalen nicht nur in Kiewer Notunterkünften und europäischen Flüchtlingszentren zugejubelt wird, sondern dass die gesamte Fußballwelt der Ukraine diesen einen Sieg wünscht.