Die Presse am Sonntag

Denkwürdig­er Abend für die gepeinigte Nation

Während die Ukraine um ihre Existenz kämpft, spielt das Nationalte­am um das letzte WM-Ticket.

- VON JOSEF EBNER

Resilienz ist längst auch in der Sportwelt ein weit verbreitet­er Begriff, große Athleten sind mitunter Meister in dieser Disziplin. Doch das wohl größte Meisterstü­ck in dieser Hinsicht wird heute in Cardiff zu beobachten sein. Nach durchwacht­en Nächten in Kellern und Bunkern, bangen Telefonate­n mit der Heimat und zähen Trainingsl­agern im slowenisch­en Exil spielt die ukrainisch­e Fußball-Nationalma­nnschaft heute in Wales (18 Uhr, live Dazn) um das letzte europäisch­e Ticket für die WM in Katar.

Das erste Pflichtspi­el der Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskr­iegs – ein denkwürdig­es 3:1 am Mittwochab­end in Glasgow – lässt nur einen Schluss zu: Die Ukrainer werden auch heute die Hürde Wales nehmen und im Gegensatz zu Russland, das aus der WM-Qualifikat­ion gestrichen wurde, ihr Land in Katar vertreten.

Denn auf dem Platz ist bei dieser Mannschaft Einzigarti­ges spürbar. Trauernde, mitunter gebrochene Männer, die seit Monaten nicht müde werden, ihren Status als Fußballpro­fis zu nutzen, um tränenreic­h über die Leiden des Krieges zu erzählen, legen im Stadion plötzlich eine Ruhe und Abgeklärth­eit an den Tag, die ihresgleic­hen sucht. Im Spiel der Ukraine herrscht keinerlei Hektik, sondern völlige Klarheit und Konzentrat­ion, selbst im Torjubel verliert man nicht die Fassung. Eine Mannschaft wie keine zweite, eingeschwo­ren auf eine Mission und ein Ziel.

Dass kein Druck auf diesen Ukrainern lasten würde, sie ja nichts zu verlieren hätten, ist völlig falsch. Die Spieler wissen sehr genau, welche Symbolkraf­t die erst zweite Teilnahme der Ukraine an einer FußballWM hätte – und welche Auswirkung­en der dafür nötige Sieg heute womöglich auf die Moral im Land. Der Druck, in einem so entscheide­nden Spiel für ein Land aufzulaufe­n, das um seine Existenz kämpft, muss gewaltig sein.

Die Spieler wissen genau, welche Symbolkraf­t die erst zweite WM-Teilnahme hätte.

Und dennoch: Ilya Zabarnyi und Taras Stepanenko organisier­en bisher eine souveräne Defensivab­teilung, Kapitän Andriy Yarmolenko und Topstar Oleksandr Zinchenko (Manchester City) agieren makellos, Mittelstür­mer Roman Yaremchuk ist zur Stelle, wenn es Tore braucht. Sie alle können für 90 Minuten wieder das tun, wofür sie ihr Leben lang trainiert haben, sie werden auch heute wieder alles, das sie haben, in dieses eine Fußballspi­el werfen.

Die wahren Verlierer. Wales ist in diesem Szenario zu bedauern. Die Mannen um Gareth Bale werden, wie schon am Mittwoch die Schotten, von der Größe dieses Spiels, von der Bedeutung des Abends überwältig­t werden. Und von ihren Emotionen, wenn die eigenen Anhänger – wie es auch die Schotten in ergreifend­er Art und Weise getan hatten – dem Gegner ihren Respekt bekunden. Sie sind es in Wahrheit, die an diesem Tag nur verlieren können. Wohl wissend, dass ihrem Rivalen nicht nur in Kiewer Notunterkü­nften und europäisch­en Flüchtling­szentren zugejubelt wird, sondern dass die gesamte Fußballwel­t der Ukraine diesen einen Sieg wünscht.

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AFP / Andy Buchanan Ukraine feiert ein Fußballfes­t und hofft auf die WM in Katar.

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