Die Solidarität der »Gruppe 131«
Daniel Chanoch wurde mit anderen Kindern in mehrere Konzentrationslager der Nazis verschleppt. Der Zusammenhalt seiner Gruppe trug die Buben durch die grausamste Zeit.
In den kalten Nächten haben Daniel Chanoch und die anderen Buben ihre Wärme geteilt. Sie bildeten einen Ring, die Körper dicht aneinandergedrängt und einer von ihnen durfte in die Mitte, so lange, bis sein Körper die Wärme aufgesogen hatte. Dann war der Nächste dran. Die Buben hätten verstanden, dass sie zusammenstehen müssen, erzählt Chanoch. Ihre Solidarität hat sie durch die schlimmste Zeit getragen. Als die Gruppe in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert wurde, am ersten Septembertag 1944, konnte sie durchsetzen, zusammen in das Lager einzuziehen. Sie entkamen der Selektion.
Chanoch erinnert sich an die Zwangsarbeit, die er und die anderen Kinder in Birkenau leisten mussten, direkt an den Gleisen, an denen die Wägen mit den Deportierten ankamen. Manche der Buben waren derart erschöpft, dass andere von der Gruppe für sie einsprangen, ohne dass es die Wachleute bemerkten. „Auf diese Weise“, sagt er, „konnten wir weitermachen.“
Chanoch, Jahrgang 1933, wurde in Litauen geboren. Wenn er heute zurückblickt, ruft er sich eine schöne Kindheit im Kreis seiner Familie wach, aber an Litauen hat er keine guten Erinnerungen. Der Antisemitismus habe in den baltischen Staaten auf die schlimmste Weise um sich geschlagen, sagt Chanoch. Seine Familie wurde im Sommer 1941 in das Ghetto Kauen deportiert, die Eltern, die beiden Schwestern und der Bruder, Uri. Mit dem Vormarsch der Roten Armee lösten die Nazis das Ghetto auf, die Überlebenden wurden in verschiedene KZs deportiert. Mit seinem Bruder kam Chanoch nach Landsberg-Kaufering, ein Außenlager von Dachau, er war gerade einmal elf Jahre alt. Es war hier, als die SS eine Gruppe von insgesamt 131 Buben
selektierte. So weit es ihnen möglich war, blieb die Gruppe von nun an beisammen, hielt sich warm, teilte nachts die Decke und tagsüber das karge Essen, sie sprachen litauisch, jiddisch, hebräisch und russisch miteinander. Die Buben zwischen elf und 15 ließen einander nicht mehr los. Doch die allermeisten überlebten das KZ Auschwitz-Birkenau, in das sie später verschleppt wurden, nicht.
Todesmarsch nach Gunskirchen. Zeitzeuge Chanoch hat nie aufgehört, über die Gräuel zu sprechen, die er gesehen und erlebt hat. In seinem nun auf Deutsch erschienenen Buch „Erzählen, um zu leben“(Edition Mauthausen) erinnert er an die sechs Konzentrationslager und Todesmärsche die er überlebt hat, an seine Freunde, er erzählt die Geschichte einer einmaligen Solidarität. Als die Nazis Auschwitz auflösten, wurden die Überlebenden der Gruppe getrennt, ein Großteil der Buben wurde nach Mauthausen deportiert. Chanoch sagt, dort lagen „Berge voller Leichen, Katzen und Mäuse knabberten an den Knochen“. Er und seine Gruppe wurde nicht in den Baracken untergebracht, sondern in einem Zeltlager – die Überlebenden dieses Lagers wurden später in das Außenlager Gunskirchen verschleppt, in dem Chanoch schließlich die Befreiung erlebte.
Von der Gruppe der 131 waren am Ende des Krieges 40 am Leben.
Die meisten konnten Israel erreichen. Dort hat sich die Gruppe nie aus den Augen verloren. Sie sahen einander regelmäßig, aßen viel, wie Chanoch lachend erzählt, „das Essen war sehr wichtig“. Er sei stolz auf sie alle. Trotz allem habe sich seine Gruppe ein Leben aufgebaut, sich Bildung angeeignet, Familien gegründet, allesamt fleißige Menschen. Von seiner eigenen Familie hat, bis auf Uri, niemand überlebt, doch seinen Bruder hat er zum letzten Mal in Auschwitz gesehen.
In den Wirren nach dem Krieg kamen Chanoch und die anderen Überlebenden in ein Lager der Amerikaner für Displaced Persons (DP) nahe Wels,
In Österreich nahm Chanoch im Mai an der Befreiungsfeier in der
KZ-Gedenkstätte
Mauthausen teil. von dort aus organisierte die Jewish Brigade deren Ausreise nach Israel. Unterwegs, irgendwo in Salzburg, sagte jemand zu ihm: „Bist du Daniel Chanoch? Dein Bruder sagt, du sollst auf ihn warten!“„Wie und wo hätte ich auf ihn warten sollen“, sagt Chanoch heute, „mitten in den Alpen.“
Er fuhr weiter nach Italien, schließlich traf er dort Uri in einem DP-Camp. Mit mehr als 1000 anderen Flüchtlingen – die meisten waren Überlebende – erreichten die Brüder Palästina auf dem Schiff Josiah Wedgwood im Jahr 1946. Die Briten wollten das Schiff, das illegal Richtung Küste fuhr, fernhalten, es wurden sogar Schüsse abgefeuert. Doch Josiah Wedgwood konnte Haifa erreichen, die Geflüchteten wurden dort zwei Monate lang im Atlit-Gefangenenlager festgehalten. „Es war für mich klar“, sagt Chanoch, „dass ich nach Israel muss.“Als er Atlit verließ, tat er das mit dem Gedanken: „Nun in das neue Leben.“
In Israel haben sich die Überlebenden nie aus den Augen verloren.
In der Doku »Pizza in Auschwitz« besucht Chanoch mit seinen Kindern die KZs.
So wichtig es ihm sei, als Zeitzeuge aufzutreten und seine Geschichte zu erzählen, so wichtig sei ihm auch zu betonen, dass er keine Menschen hasse. „Warum sollte ich“, sagt er, „ich habe keinen Feind im Leben.“Gut, Adolf Hitler sei nicht sein Freund gewesen. Chanochs Humor, bisweilen schwarz, ist stadtbekannt.
Filmemacher Moshe Zimerman drehte mit ihm die Dokumentation „Pizza in Auschwitz“(2008), er begleitete den damals 74-Jährigen und seine Kinder nach Europa, wo sie jene Konzentrationslager aufsuchten, die Chanoch überlebte. Das Ziel des Vaters ist es, mit seinen Kindern in jener Baracke in Auschwitz zu übernachten, in der auch er einst schlief. So ergreifend und tieftraurig die Doku ist – sie zeigt in Episoden auch den unerschütterlichen Humor von „Danny“Chanoch.