Wahlkrimi für Macrons Getreue
Am 12. und 19. Juni werden in Frankreich die 577 Abgeordneten der Nationalversammlung gewählt. Präsident Emmanuel Macron muss für seine zweite Amtszeit um eine parlamentarische Mehrheit bangen.
Wer in Frankreich den Wahlkampf verfolgen will, geht am besten auf den nächstbesten Straßenmarkt. Dort nämlich versuchen die Kandidierenden mit Flugblättern und Programmbroschüren in der Hand mit ihren potenziellen Wählern ins Gespräch zu kommen. Die Grüne Sandrine Rousseau ist derzeit fast jeden Tag in ihrem Wahlkreis im 13. Stadtbezirk von Paris anzutreffen. Als Kandidatin der linken Wahlunion NUPES (Neue Ökologische und Soziale Volksunion) hat sie gute Aussichten, den Sitz des Abgeordneten der Regierungspartei LREM (La Re´publique en Marche), Buon Tan, zu erobern.
Auch er verteilt seine Handzettel zwischen den Marktständen mit Obst und Gemüse, die dort jeden Samstag auf dem Boulevard Vincent Auriol unter der Überführung der Pariser Metro aufgebaut werden. Er meint, er habe einen nicht zu unterschätzenden Heimvorteil. Damit spielt er auch auf seine Herkunft an. Denn der südliche Teil dieses Quartiers gehört zum historischen „Chinatown“der französischen Hauptstadt, in der auch heute noch vorwiegend eingewanderte Familien aus China, Vietnam und Kambodscha leben, auf deren Stimmen Tan hofft. Seine Beziehungen zur Volksrepublik China sind dem früheren Teehändler auch eine ideologische Verrenkung wert. Als einziger Abgeordneter hat er am 20. Jänner in der Nationalversammlung gegen eine Resolution gestimmt, mit der die Verfolgung der Uiguren als Genozid verurteilt worden ist. Seinen Gegnern reicht dies, um ihn einer expliziten Billigung dieser Unterdrückung zu verdächtigen.
Die 50-jährige Rousseau ist neu in diesem Quartier von Paris, sie wohnt erst seit ein paar Monaten hier, sie spielt die Karte eines politischen Wechsels und der Einheit der Linken aus. Sie setzt auf ihre berufliche Kompetenz als Wirtschaftsdozentin für Umweltfragen und ihre nationale politische Bekanntheit. Sie hatte zwar die Vorwahlen bei den Grünen (EuropeE´cologie-Les Verts) zur Nominierung des Präsidentschaftskandidaten nur knapp gegen Yannick Jadot verloren. Da dieser als Gegner von Emmanuel Macron dann mit 4,58 Prozent ein enttäuschendes Resultat erzielt hat, gilt Rousseau, die den linken Flügel der
Grünen verkörpert, als neue Führungsfigur der Umweltpartei. Allerdings muss sie nun aber erst mal in die Nationalversammlung gewählt werden. Die Leute, denen sie sich als Kandidatin der vom Ex-Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Me´lenchon mit den wichtigsten Linksparteien gegründeten linken Volksunion vorstellt, kommt die kleine Frau mit dem grauen Kurzhaarschnitt meistens bekannt vor.
Mediales Aufsehen. „Ich habe Sie im Fernsehen gesehen“, freut sich eine etwa 60 Jahre alte Frau. Sie will unbedingt der für Frauenrechte engagierten Grünen für den Vorschlag gratulieren, mit dem sie in den Medien kürzlich für Aufsehen gesorgt und sogar eine landesweite Polemik ausgelöst hat: Per Gesetz soll die Arbeitslast des Haushalts von den Lebenspartnern gleichermaßen getragen werden und die Missachtung dieser Gleichheit (der Geschlechter) beim Waschen, Putzen und Kochen soll ein strafbares Delikt werden. „Das hat mir vor allem auf Twitter auch eine Welle von gehässigen Beschimpfungen eingebracht“, sagt Rousseau der Sympathisantin. An ihrem Vorschlag hält sie fest: „Seit Jahrzehnten geht in diesem Bereich so gut wie gar nichts weiter.“
Lässt sich damit eine Wahl gewinnen? Eine Umfrage der Zeitung „Le Parisien“hat ergeben, dass 50 Prozent der Frauen und 44 Prozent der Männer die Idee gut finden oder zumindest grundsätzlich nicht dagegen wären.
Auch Wahlhelfer anderer Kandidaten und Kandidatinnen verteilen an diesem Vormittag ihre Drucksachen an die Einkaufenden. Die Leute auf dem Markt haben so neben Früchten, Fisch und Fleisch auch ein breites politisches Angebot, das von der extremen Rechten über die Tierschutzliste des Parti Animaliste bis zur linken NUPES reicht. Die Anhänger von Rousseau begründen ihren Optimismus mit Prognosen, die ihr mehr als 40 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang voraussagen.
Nicht anzutreffen ist an diesem Tag weder auf dem Markt noch sonst je irgendwo im Wahlkreis Sandrine Rousseaus Namensvetterin, die als Gegenkandidatin von der ehemaligen französischen
Kandidatin der Grünen Jägerpartei Chasse, Peˆche, Nature et Traditions, die jetzt Mouvement de la Ruralite´ heißt, aufgestellt wurde. Wie der Parteiname verheißt, soll sie also bei dieser Wahl die Interessen und Traditionen der „ländlichen“Bevölkerung vertreten. Das tönt im exklusiv städtischen Kontext recht absurd. Die Kandidatur der in Paris vollkommen unbekannten und in der Normandie wohnhaften LMR-Kandidatin, die wirklich denselben Vor- und Familiennamen trägt wie die bekannte Grüne, ist ein politischer Jux im ansonsten recht flauen Wahlkampf.
Diskrete Wahlkampagne. Die erklärte gemeinsame Priorität für alle Parteien ist es aber, den Wahlberechtigten in Erinnerung zu rufen, dass sie am Samstag an der Urne ihre Bürgerpflicht erfüllen müssen. Viele denken nämlich, dass die Wahl des Staatspräsidenten entscheidend gewesen ist. Macrons Hauspartei La Re´publique en Marche tritt mit den anderen Parteien der bisherigen Regierungsmehrheit unter dem Einheitsetikett „Ensemble!“an, führt aber in den meisten Wahlkreisen einen so diskreten Wahlkampf, dass man vermuten muss, dass es dabei vor allem darum gehe, jede persönliche Initiative zu vermeiden, die Anstoß erwecken könnte. Der Präsident glaubt, dass ihm die Landsleute nach seiner Wiederwahl nun loyal auch die zum Regieren nötige parlamentarische Mehrheit geben. Mehr als das erwartet er nicht.
Das Interesse an der Wahl der Abgeordneten hält sich auch im 13. „Arrondissement“von Paris wie anscheinend in ganz Frankreich ziemlich in Grenzen. Immer wieder rufen die Flugblattverteiler den Vorübereilenden den Termin in Erinnerung: „Am 12. und 19. Juni wird gewählt! Wissen Sie das?“Und zweckoptimistisch fügen sie dann manchmal an: „Wir zählen auf Sie und Ihre Stimme.“Sandrine Rousseau will bis zum Schluss jede Stimme holen. Von zwei Helfern begleitet beginnt sie nach dem Markt eine Tür-zu-Tür-Tour im 13. Stockwerk des nächstgelegenen Sozialwohnblocks an der Rue Jeanne d’Arc.
Die Kandidierenden treten zusammen mit einem Ersatz in einem der 577
Wahlkreise für je einen Sitz in der Nationalversammlung an, sie sollen aber in der Parlamentskammer nicht (oder wenigstens nicht zur Hauptsache) die lokalen Anliegen ihrer Wähler verteidigen, sondern die Interessen der Nation. Und aus diesem Grund können die Wahlberechtigten auch in einem Wahlkreis kandidieren, in dem sie weder ihren Wohnsitz noch sonst einen familiären oder beruflichen Bezug haben.
Wenn dann die Parteien ihre Prominenten mit Vorliebe dort ins Rennen schicken, wo sie zwar nicht einmal eine Adresse, aber aufgrund ihrer Popularität und der lokalen politischen Sympathien große Wahlchancen haben, spricht man in Frankreich von „Candidats Parachute´s“, das heißt von Kandidaten, die wie mit einem „Fallschirm“in dem ihnen meist unbekannten Terrain landen. Eigentlich sind diese Praktiken aus einer anderen Epoche längst verpönt. Doch auch dieses Mal gibt es jede Menge solcher „Fallschirmspringer“im Wahlkampf.
Auch Sandrine Rousseau, die zwar im Pariser Vorort Maisons-Alfort auf die Welt gekommen ist, dann aber lang in Lille in Nordfrankreich gelebt und politisiert hat, gehört zu diesen politischen Nomaden. Die Bekannteste unter den derzeitigen „Parachutistes“ist jedoch eindeutig die Premierministerin E´ lisabeth Borne, die sich zum ersten Mal überhaupt einer Volkswahl stellt. Man hat ihr dazu einen erfolgversprechenden ländlichen Wahlkreis
Wer die Arbeitslast im Haushalt nicht teilt, begeht ein strafbares Delikt. » Der Vorschlag für ein Gesetz zur Gleichheit der Geschlechter hat mir vor allem auf Twitter eine Welle von gehässigen Beschimpfungen eingebracht. « SANDRINE ROUSSEAU
Premier ´Elisabeth Borne stellt sich zum ersten Mal überhaupt einer Volkswahl.
bei Caen in der Normandie reserviert, wo der bisherige Abgeordnete zu ihren Gunsten auf eine Kandidatur für eine Wiederwahl verzichten musste.
Auch für die erst gerade ernannte Premierministerin gilt indes eine ungeschriebene Regel für kandidierende Regierungsmitglieder: Wer verliert, muss abtreten. Ernsthaft gefährdet sind von den insgesamt 15 kandidierenden Mitgliedern der Regierung vor allem Damien Abad, der Minister für Behinderte, der wenige Tage nach seiner Nominierung von zwei Frauen wegen Vergewaltigungen angeklagt worden ist, sowie Innenminister Ge´rald Darmanin, der als Hardliner in der Immigrationspolitik und wegen brutaler Polizeiaktionen gegen Demonstrationen oder Fußballfans auch im Regierungslager umstritten ist.
Abstrafung von Ministern. Die Aussicht, einen Minister eventuell mit einer Wahlniederlage abzustrafen, beflügelt vor allem die Gegner aus dem Lager der NUPES noch zusätzlich. Laut den letzten Umfragen kann diese Allianz der Linksparteien aber eher mit 160 bis 180 Sitzen rechnen, was fast dreimal mehr als im Jahr 2017 wäre, aber doch noch weit von der angestrebten Mehrheit von mindestens 289 Sitzen entfernt. Jean-Luc Me´lenchon, der bei den Präsidentschaftswahlen mit fast 22 Prozent nur Dritter geworden ist, posaunt trotzdem seit Wochen im Land herum, er werde nach dem (für ihn) absehbaren Sieg von NUPES Frankreichs nächster Premierminister, und Macron werde mit ihm als Regierungschef zu einer „Kohabitation“gezwungen sein.
Das ist indes nicht der wahrscheinliche Ausgang der Wahlen. Macrons Koalition hofft immerhin auf 275 bis 310 Sitzgewinne. Falls er nur noch eine relative Mehrheit erhält, müsste der Präsident vermutlich neue Allianzen mit den Konservativen schließen, die rund die Hälfte ihrer bisherigen 119 Sitze verlieren könnten. Die extreme Rechte wird voraussichtlich mehr als dreißig Mandate erobern und so erstmals seit 1988 über eine eigene Fraktion verfügen – mit der festen Absicht in der Opposition ebenfalls dem Präsidenten das Amtsleben schwer zu machen.
Die Kleinen amüsieren sich. Auf dem blauen Linoleumboden jagen sie mit Hockeyschlägern einem roten Ball hinterher. Sie spielen Salibandy, eine Variante von Hallenhockey, die in Finnland populär ist. Die Szene ist alltäglich, aber die Kulisse ist es nicht. An den Wänden wölbt sich links und rechts und oben weiß gestrichener Granit. Dieser Spielort ist keine Halle. Er ist eine Höhle. Wo zu Friedenszeiten Kinder Salibandy spielen, soll man in Kriegszeiten Gasangriffe und nukleare Apokalypsen überstehen. In maximal 72 Stunden können die Finnen die Sport- und Freizeitanlage hier im Zentrum Helsinkis in einen riesigen Bunker für 6000 Menschen verwandeln.
Helsinki ist eine Rarität. Es ist die Prepper-Hauptstadt der EU. Das Wort „Prepper“ist zwar kontaminiert, weil es auch für Extremisten gebraucht worden ist, die einen nahenden Tag X herbeifantasieren. Aber so ist das nicht gemeint. „To prep“ist kurz für „to prepare“und laut Duden bedeutet „preppen“, „sich für den Krisen- oder Katastrophenfall zu rüsten“. So verstanden ist das Wort passgenau: Finnland „preppt“hemmungslos. Sie rüsten sich für alles und immer. Ein Staat wie eine Versicherungsanstalt.
„Grauzone“. In diesen Tagen schaut die Weltöffentlichkeit wieder in den Norden. Finnland will in die Nato. Aber es steckt in der „Grauzone“fest. Ein Beitritt ist schon beantragt, aber er ist noch nicht vollzogen. Die Türkei blockiert den Prozess, und niemand weiß mit letzter Sicherheit, wie lang noch. Die „Grauzone“ist kein schöner Ort. Es gibt dort keine Sicherheitsgarantien, nicht von der Nato. Muss man sich um die Finnen Sorgen machen?
Experten beruhigen. Sie zeigen auf das Militär. Finnland zählt nur 5,5 Millionen Einwohner, aber bis zu 900.000 Reservisten. Solche Proportionen gibt es sonst nirgends in Europa. Die finnische Artillerie ist groß und modern. Aber bei dem Blick auf die Armee geht oft unter, dass Finnland auch eine Zivilschutzmacht ist. Dass man Sicherheit ganzheitlich denkt. Die Tausenden Bunker sind dafür nur ein Beispiel, aber das größte.
Viele behaupten, es gebe zwei Helsinkis: eines über und eines unter der Erde. Finnlands Kapitale hat 5550 Bunker, die meisten davon, 85 Prozent, privat errichtet: Wo die Fläche mehr als 1200 Quadratmeter misst, ist ein Bunker Pflicht. Auf 650.000 Einwohner kommen 900.000 Bunkerplätze. Im Ernstfall reicht das aus für alle, „auch für die Touristen“, wie Broschüren versichern. Die ganze Stadt könnte dann für Tage unter der Erde verschwinden.
In Friedenszeiten kann man hier in einem Schwimmbad seine Runden drehen, das von weißem Granit eingerahmt ist. Oder im Höhlenbunker auf die U-Bahn warten. Oder parken. Große städtische Schutzräume werden oft als Parkgaragen genutzt.
Sie füllen hier nicht nur die Waffenkammern, sondern auch die Vorratskammern.
Ein Vormittag im Mai. Die Sonne scheint über Helsinki. Am Himmel kreisen Möwen. Ein paar schmucklose Plattenbauten erheben sich am Ufer. Die Altstadt ist nur einen Steinwurf entfernt. Wikipedia spuckt über die Gegend hier einen unfreundlichen Satz aus: „Merihaka wird von vielen als eins der hässlichsten Gebiete Helsinkis betrachtet.“Aber die zentrale Lage! Es ist eine beliebte Gegend. Das Ziel des Spaziergangs ist ein unscheinbarer Glaspavillon ein paar Hundert Meter weiter. Stufen führen 30 Meter hinunter, in den „Merihaka Shelter“. Wer sich der Prepper-Nation Finnland annähern will, kann es hier versuchen.
Petri Parviainen – Brille, Dreitagebart, dunkelblaue Uniform – empfängt. Er leitet eine Zivilschutzeinheit. Will man den eigentlichen Bunker betreten, muss man zwei Tore passieren. Sie sind schwer und dick. „Das erste Tor schützt gegen die Druckwelle einer Explosion“, sagt Parvianien. „Das zweite vor Gas, Gift oder was auch immer.“Es verschließt luftdicht. Dahinter, in der Bunkeranlage, die zurzeit Sporthalle, Kinderspielplatz und Parkgarage ist, herrscht (im Ernstfall) Überdruck, damit kein Gift hereinkann.
Parvianien erzählt das auch, um Missverständnissen vorzubeugen. Wer sich einen Luftschutzbunker vorstellt, wie sie auf Bildern aus dem UkraineKrieg zu sehen sind, irrt. Die Bunker sind eher eine autarke Miniaturwelt mit Aggregaten, Grundwasserpumpen, Belüftungsanlagen.
Hier in Merihaka ist alles geplant, vorbereitet, rationiert. Gelbe Markierungen im Stollen zeigen an, wo sie die Toiletten aufbauen würden. Es gibt ein