Die Tücken der Tempo-Politik
Österreich gilt als Land, in dem in der Innenpolitik erst viel diskutiert wird und dann wenig passiert. Zuletzt gab es allerdings mehr Action und weniger Debatte. Gut so? Nicht unbedingt.
Als die Regierung diese Woche das (Fast-)Ende der kalten Progression verkündete, gab es viel Applaus. Allerdings verdutzten. Denn obwohl ihre Abschaffung schon ewig gefordert wird, hat offenbar keiner damit gerechnet, dass es jetzt wirklich passiert. Als Draufgabe forderte der vor Kurzem selbst noch skeptische Finanzminister am Samstag, dass das Aus sogar in den Verfassungsrang gehoben wird.
So weit, so überraschend. Denn gefühlsmäßig würde man sagen: Österreich ist ein Land, in dem lang herumdiskutiert wird und dann erst recht nichts passiert – Modell Amtsgeheimnis. Nur: In den letzten beiden Jahren stimmte oft das Gegenteil. Wenig Debatte, viel Action. Eine Verbesserung war das aber leider nicht immer. Negativbeispiel ist die Impfpflicht. Zuerst hieß es: Nein, auf keinen Fall. Ein Landeshauptleute-Treffen später war sie da und dann auch wieder weg.
Man könnte die Liste der Hakenschläge fortsetzen, aber der Punkt ist: Wenn sich schon professionelle Beobachter die Augen reiben, wie geht es dann jenen, die die Politik nur aus den Augenwinkeln verfolgen?
Nun könnte man abwinken: Such is life. Die Zeiten sind, wie sie sind. Also schnell und unsicher. Wer heute anderen einen Meinungsschwenk vorwirft, muss morgen vor der eigenen Türe kehren. Wie soll man da Regierungen Kurswechsel vorhalten? Aber: Müssen diese so abrupt vonstatten gehen?
Denn das Hakenschlagen hat Haken. Wenn Politiker erst A, dann B, dann C sagen, nimmt die Wichtigkeit von A, B und C logischerweise ab. Denn wozu ernst nehmen, was demnächst nicht mehr gilt. Relativität sticht Relevanz. Wenn Corona den Kanzler an einem (Partei-)Tag „nicht kümmert“, für wie relevant werden seine aktuellen Sorgen wegen einer Sommerwelle gehalten werden? Ein zweiter Punkt, oder vielmehr Haken, ist: Stimmungen ändern sich nicht auf Knopfdruck. Wenn die Grünen monatelang erklären, dass Energiesparen wichtig für die eigene Börse, aber nicht für die Versorgungssicherheit ist, dürfen sie sich nicht wundern, wenn keiner aufmerkt, falls sie sich wie ihr deutscher Kollege Habeck doch zu Sparappellen durchringen. Zu diesen Nebeneffekten schneller Schwenks kommt aber noch ein Ärgernis: Tempo ist mitunter ein Schmäh. Wer schnell handeln muss, war oft zu langsam. Hat zu lang gewartet, nicht vorausgedacht und kann daher nur mehr reagieren (und muss z. B. ein Sterbeverfügungsgesetz ohne ordentliche Begutachtungsfrist durchziehen). Tempo ist nicht immer Tatkraft.
„Wir werden uns als Gesellschaft auf sehr weitreichende Transformationsprozesse vorbereiten müssen“, sagt der Gesundheitsminister in den „SN“. Stimmt. Aber dann sollte Türkis-Grün damit anfangen, statt Entscheidungen erst ex post in Serien-Interviews zu erklären. Zugegeben, „die Leute mitnehmen“ist eine Floskel, für die es keine Originalitätspunkte gibt. Aber darauf läuft es hinaus. Je unsicherer die Zeiten, desto wichtiger ist es, Kurswechsel anzumoderieren, den Weg zu Entscheidungen mit Argumenten zu pflastern und auch Wissenslücken vorab auszuschildern. Ja, das ist mühsam. Aber spröde Transparenz ist die Basis für etwas, was in Krisen wertvoller ist als Gewissheiten mit ohnehin kurzer Halbwertszeit: Vertrauen.
» Wenn die Politik Haken schlägt, hat das Haken. Relativität sticht dann rasch Relevanz. «