Niederösterreich: Das Land, das Wien
Wein, Pendler, Bauern und Sommerfestivals: Niederösterreich sticht im Vergleich mit den anderen Bundesländern nicht nur durch seine Größe hervor. »Die Presse am Sonntag« hat zum 100. Geburtstag zusammengefasst, was Niederösterreich ausmacht. Eine Landverm
Es war eine einvernehmliche Trennung. Angebahnt hatte sie sich schon lang, 1922 wurde sie dann auch ganz offiziell vollzogen. Das Eigentum wurde aufgeteilt, beide Parteien gingen fortan getrennte Wege – auch wenn sie nie so ganz voneinander loskamen.
Was wie das Ende einer romantischen Geschichte klingt, ist eigentlich eine territoriale: Vor 100 Jahren wurde Niederösterreich von Wien getrennt und zum eigenständigen Bundesland. Heuer wird das runde Jubiläum gefeiert, unter anderem mit 22 Bezirksfesten am kommenden Wochenende.
Einige Festakte zum Jubiläum hat die niederösterreichische Landeshauptfrau, Johanna Mikl-Leitner (ÖVP), schon hinter sich. Wenn man sie fragt, was das Bundesland von anderen unterschiedet, ist die Antwort gegenüber der „Presse am Sonntag“durchaus überraschend: „Niederösterreich ist ein Land der Vielfalt, sowohl in seiner Topografie als auch in seiner Gesellschaft. Und gerade das freiwillige Engagement ist in unserem Bundesland stärker ausgeprägt als anderswo“, so die Landeshauptfrau. Denn mehr als die Hälfte der Bewohner engagiere sich in einem Verein. Und: „Unser Niederösterreich und unsere Landsleute zeichnet aus, immer mit offenem Blick für die Welt unterwegs zu sein – wir sind heimatbewusst und weltoffen zugleich“, sagt Mikl-Leitner. Dies habe auch „viel mit unserer Geschichte zu tun“.
Rückblick. Mit dieser Geschichte beschäftigen sich die Historiker Stefan Eminger und Ernst Langthaler bereits seit zwei Jahrzehnten. Gemeinsam haben sie das Buch „Niederösterreich. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart“geschrieben. Dass sie das Buch mit dem Ersten Weltkrieg und nicht erst mit dem Jahr 1922 beginnen, hat einen Grund: „Die Trennung war keine Erfindung der frühen 1920er-Jahre, sondern es gab vorher schon immer wieder Tendenzen dazu“, so Eminger, der für das Niederösterreichische Landesarchiv arbeitet. „Diese gingen vorerst aber von Wien aus. Man hat Niederösterreich als Klotz am Bein gesehen.“
Zu Beginn der Ersten Republik kehrte sich diese Dynamik, die Initiative für die Trennung kam nunmehr vom „flachen Land“, besonders von der politisch den Ton angebenden Kraft – dem Österreichischen Bauernbund. „Es gab allerdings auch Impulse vonseiten der späteren westlichen Bundesländer. Denn diese befürchteten, dass sie an den Rand gedrängt werden könnten, nachdem Wien und Niederösterreich gemeinsam mehr als die Hälfte der Bevölkerung stellten“, sagt Eminger.
Die Wahlen 1919 führten dann zur Sensation: Im gemeinsamen Land Niederösterreich-Wien wurde die Sozialdemokratie stärkste Kraft. „Das befeuerte die Trennungsbestrebungen des Bauernbundes noch einmal. Die Wiener Sozialdemokratie war auch nicht ganz unzufrieden mit der Idee, denn man wusste, dass man dann in Wien sicher die absolute Mehrheit erlangen würde“, so Eminger. In den ersten Jahren nach dem Krieg bremsten noch Hungersnöte (die vor allem Wien zögern ließen) die Diskussionen über die Trennung. Als sich die wirtschaftliche Situation besserte, war man aber zu einer Entscheidung gekommen: Wien und Niederösterreich trennten sich.
Nach wie vor verbindet das „flache Land“viel mit Wien – allem voran die geografische Nähe. „Das Alleinstellungsmerkmal von Niederösterreich ist jedenfalls auch Wien: Ich komme nicht in die Bundeshauptstadt, ohne Niederösterreich queren zu müssen“, sagt Langthaler. In den vergangenen 100 Jahren bildete Niederösterreich aber auch seine eigene Identität als Bundesland aus. „Die Presse am Sonntag“hat zum Jubiläum zusammengefasst, was Niederösterreich ausmacht.
Politisch ist Niederösterreich das „schwarze Kernland“schlechthin: In zwölf der 16 niederösterreichischen Landtagswahlen seit 1945 holte sich die ÖVP mehr als die Hälfte der Stimmen. In 14 von 16 Perioden hielt die ÖVP eine absolute Mehrheit im Landtag – denn in zwei Fällen erreichte sie trotz Wahlergebnissen im 40-ProzentBereich die absolute Mehrheit der Landtagsmandate. Einen Koalitionspartner brauchte man nur von 1993 bis 2003 – die SPÖ. Laut einer Umfrage der „Niederösterreichischen Nachrichten“von Februar könnte das bei der nächsten Wahl 2023 aber nicht mehr halten: 44 Prozent (und damit zu wenig für die Absolute) gaben an, die ÖVP wählen zu wollen.
Mit über 99,5 Prozent wurde hingegen Mikl-Leitner Ende April als Landesobfrau bestätigt. Damit übertraf sie das Ergebnis von ihrem ersten Antritt 2017, als sie mit 98,5 Prozent an die Spitze der Landespartei gewählt worden und Erwin Pröll nachgefolgt war. Auch das zeichnet Niederösterreich aus: dominante Landeshauptleute, die seit jeher eine große Rolle bei der Bildung eines Landesbewusstseins spielten.
Trotzdem hat Niederösterreich eine Sonderstellung beim territorialen Bewusstsein, „bei der Frage, mit welchen territorialen Einheiten man sich verbunden fühlt: mit dem Ort, der Region, dem Bundesland, dem Zentralstaat Österreich oder übergeordneten Einheiten wie Europa“, so Langthaler, Professor an der Universität Linz. „Bei den
Zahlen dazu sieht man, dass sich Niederösterreich von allen anderen Bundesländern dadurch abhebt, dass das Lokalbewusstsein sehr stark ausgeprägt ist, aber gleichzeitig auch das Nationalbewusstsein. Niederösterreicher sind in erster Linie Lokalpatrioten ihres Ortes und gleichzeitig die Österreicher schlechthin.“Anders als etwa in Tirol ist die Identifikation mit dem Bundesland hingegen niedrig.
„Dass in Niederösterreich die Identifikation mit dem Zentralstaat besonders stark ist, hat sich nicht erst im 20. Jahrhundert entwickelt“, sagt Langthaler. „Das reicht bis in die Zeit der Habsburger Monarchie zurück, in der das Umland von Wien traditionell eine sehr enge Beziehung zum Herrscherhaus hatte.“ 68 Prozent der Niederösterreicher pendeln zur Arbeit – nur im Burgenland ist diese Zahl noch höher. Die Arbeiterkammer, die diese Zahl erhoben hat, führt dies auf die „Sogwirkung der Bundeshauptstadt als Arbeitsplatz“zurück: Täglich kommen rund 60.000 Pendler mit dem Zug und 120.000 mit dem Auto nach Wien, um dort zu arbeiten.
„St. Pölten ist von Wien nur mehr weniger als 30 Minuten Fahrt entfernt“, sagt Langthaler. Es sei deshalb nicht übertrieben, was ein „Falter“-Journalist einmal halbernst geschrieben habe: St. Pölten sei im Grunde der 24. Bezirk von Wien. Die Beziehung zwischen der Bundeshauptstadt und Niederösterreich sei aber ambivalent, sagt Langthaler: „Einerseits gibt es eine Verselbstständigung, andererseits auch wieder eine Annäherung in verkehrstechnischer Sicht.“
Auch der Speckgürtel sei ein Phänomen, das es ohne die Verkehrsanbindungen an Wien wohl nicht geben würde. Oft sind die Kosten fürs Wohnen gleich hinter der Stadtgrenze billiger, gleichzeitig ist man schnell in der Großstadt. „Der Speckgürtel ist wirtschaftlich sehr wichtig für Niederösterreich“, so Langthaler. „Genauso wie die Shopping City Süd in Vösendorf, die in den 1970er-Jahren ein Einfallstor für internationale Konzerne wie McDonald’s und H&M war.“
Das Thema Wirtschaft und Industrie in Niederösterreich „würde ich mit dem Etikett schwierig versehen“, sagt Langthaler. Und das, obwohl ein Teil des Landes als Industrieviertel benannt ist. „Die Wirtschaftsentwicklung, vor allem die Industrie, war im 20. Jahrhundert von vielen Problemen begleitet“, so der Historiker.
Niederösterreich habe eine großindustrielle Infrastruktur von der Monarchie geerbt. Im Industrieviertel entstanden im ersten Weltkrieg große Rüstungsbetriebe, in diese investierten auch die Nationalsozialisten im zweiten Weltkrieg. „Aber der größte Teil der Investitionen vonseiten des Staates verlagerte sich dann nach Westen – ein gutes Beispiel ist die Voestalpine in Oberösterreich“, sagt Langthaler. Durch den Krieg wurde viel industrielle Infrastruktur in Niederösterreich zerstört. Die wenigen Bodenschätze, vor allem Erdöl, wurden von der Besatzungsmacht Sowjetunion angezapft.
Nachdem der Staatsvertrag unterschrieben wurde und die Besatzungsmacht abzog, musste sich Niederösterreich mit der Lage direkt am Eisernen Vorhang arrangieren. „Die Wirtschaftsentwicklung im Wein- und Waldviertel wurde dadurch extrem gehemmt, erst 1989, mit Fall des Eisernen Vorhangs, öffnete sich dieses Tor wieder.“Doch viele internationale Firmen entschlossen sich dazu, Betriebsstandorte von Niederösterreich ins billigere Osteuropa zu verlegen. „Das führte dazu, dass der Wohlstand – wenn man ihm am
international bekannt. Grund für den Erfolg ist wohl auch das strenge Weingesetz, das nach dem Skandal in Österreich eingeführt wurde.
Niederösterreich ist auch für seine kulturelle Szene bekannt. Die Gründung der Landeshauptstadt St. Pölten 1986 war nicht nur mit einer Übersiedelung der Verwaltung verbunden, sondern auch mit der Gründung von kulturellen Einrichtungen wie dem Festspielhaus oder dem Landesmuseum. Die Etablierung der Kulturszene führte auch zu einem angespannten Verhältnis zwischen Krems und St. Pölten: „Als neue Hauptstadt hätte St. Pölten erwartet, dass die großen Wissenschafts- und Kultureinrichtungen dorthin siedeln. Vielmehr wurde aber auch Krems gefördert, etwa mit der Donau-Uni oder der Kunstmeile“, so Eminger. „Das hat die St. Pöltener Lokalpolitik schon ein bisschen verstört.“
Die kulturelle Aufbruchsstimmung habe bereits in den 1970er-Jahren begonnen. Einen Wendepunkt, durch den das Budget in der Kulturpolitik schlagartig anstieg, gab es dann Mitte der 1980er-Jahre: „Das hing mit dem erst kürzlich verstorbenen Künstler Hermann Nitsch zusammen. Er wurde damals von einer Jury einstimmig für den Kulturpreis nominiert“, so Eminger. Doch die Lokalpolitik habe kalte Füße bekommen, denn Nitsch war eine polarisierende Figur in der Kunstszene. „Die Entscheidung der Jury wurde übergangen – ein Skandal“, sagt Eminger. Der damalige Landeshauptmann, Siegfried Ludwig, versuchte das
1,7 Millionen.
Niederösterreich ist nach Wien das Bundesland mit den meisten Einwohnern.
19.186 Quadratkilometer.
Außerdem ist es das flächenmäßig größte Bundesland.