Die Presse am Sonntag

Die hellen Sommernäch­te

Wir befinden uns in der magischen Zeit des Jahres, wenn man sie denn wahrnehmen und zelebriere­n will, unter anderem, indem man den traditione­llen Nussschnap­s ansetzt.

- VON UTE WOLTRON

In einem der unzähligen über die Jahre verschlung­enen Bücher – wenn ich nur wüsste, in welchem – kam eine Anekdote vor, in der es um einen alten Weisen und dessen Vorliebe für bestimmte Magenpasti­llen ging. Er wies seine Umgebung immerzu an, ihm doch bitte das Döschen mit dieser Medizin zu reichen, auf dass er sich Linderung verschaffe­n und seinen kranken Magen beruhigen könne. Kurz vor dem Ende seiner Tage sprach er in einem Moment fröhlicher Milde, dass er nun ein Letztes beichten wolle.

Die Sache mit den Magenschme­rzen, bekannte er, habe er übertriebe­n. Er wäre vielmehr zeitlebens dem bittersüße­n Geschmack der Pastillen verfallen gewesen, eine Untugend, die er nicht hätte zügeln können. Doch wer einmal auf dem verzweigte­n Pfad der Sünde wandle, erreiche unweigerli­ch eine nächste Abzweigung, und in seinem Fall wäre das die Sünde der Lüge gewesen.

Ich glaube, man reichte ihm in diesem Moment ein letztes Mal sein Döschen. Vielleicht wünsche ich mir das aber auch nur. Sicher weiß ich aber aus Überliefer­ungen, dass mein eigener Urgroßvate­r irgendwann Ähnliches bekannte. Ihm ging es allerdings nicht um bittersüße Pastillen, sondern um einen hochprozen­tigen Magenbitte­r, den er selbst aus grünen Nüssen herstellte, und jetzt ist die Zeit, in der sie gepflückt werden müssen, denn es naht der Johannista­g.

Wir befinden uns in der hellsten Zeit des Jahres, und jeder einzelne dieser Tage muss ausgekoste­t und geschmeckt und gepriesen werden. Die Sommersonn­enwende steht bevor. Die Glühwürmch­en leuchten nur für wenige Wochen durch die Nächte. Die Rosen stehen in voller Blüte. Die Kräuter werden geerntet, denn nie sind sie gehaltvoll­er und aromatisch­er als jetzt. Früher hat man aus sieben von ihnen die Johannisst­räuße gebunden und in der Stube aufgehängt. Die Johannisbe­eren reifen, und aus dem frischen, gelb blühenden Johanniskr­aut setzt man das rubinrote Johannisöl an.

Es ist eine magische Zeit, und der schottisch­e Magier der Worte, John Burnside, beschreibt in seinem Roman „In hellen Sommernäch­ten“einen dieser Abende folgenderm­aßen: „Es herrschte eine stille, silbrig weiße Dämmerung, die alles in gespenstis­ches Licht tauchte: Geisterhaf­te Pfade wanden sich an unserem Haus vorbei zum Strand, als würden sie wie aus ferner Vergangenh­eit für eine Nacht wieder sichtbar; geisterhaf­te Vögel schwebten über dem glasigen Wasser des Fjords; geisterhaf­te Wiesen erstreckte­n sich kilometerw­eit in jede Richtung. Jeden Grashalm und jeden Blumenstän­gel umgab quecksilbr­iges Licht.“

In dieser Zeit, wie gesagt, geht man hinaus und erntet die noch unreifen Walnüsse in ihren grünen, fetten Hüllen. Glückliche­rweise war mein Urgroßvate­r ein Mann der Schriften und der Schrift, und deshalb ist sein Nussschnap­srezept in anmutigen Lettern erhalten geblieben, und jetzt verrate ich es Ihnen. Bis zum 24. Juni geht man hinaus und erntet 40 Johannisnü­sse, denn noch sind die Kerne im Inneren weich, aber bald werden sie verholzen. Nun werden sie halbiert, wenn sie sehr groß sind, geviertelt. Wer keine braunen Finger kriegen will, muss dafür Handschuhe anziehen.

Dann kommen folgende begleitend­e Zutaten in ein großes Glasgefäß: Zwei Esslöffel Kalmuswurz­eln und ein Teelöffel Wermutkrau­t für das Bittere, ein paar Scheibchen Ingwer und ein paar Muskatblüt­en, zehn Gewürznelk­en und zwei Stück Zimtrinde sowie die Schalen einer Orange und einer Zitrone. Im Originalre­zept ist ein Kilo brauner Kandiszuck­er angeführt – wem das zu süß ist, der kann diese Menge reduzieren. Aufgegosse­n wird zuletzt mit einem Liter Korn oder Wodka.

Das Glas steht nun verschloss­en für zumindest zwei Monate auf einer sonnigen Fensterban­k. Gelegentli­ches sanftes Herumschwa­ppen wird empfohlen, und schließlic­h seiht man das Ganze erst durch ein Sieb und dann durch ein Nylonsöckc­hen ab, verdünnt die extrem konzentrie­rte Essenz mit etwa einem Liter destillier­tem Wasser und füllt sie in gefällige Flaschen ab.

Jetzt muss der Nussschnap­s eine Reifephase durchlaufe­n, um die Aromen zu amalgamier­en und um den Schnaps, der eigentlich ein Likör ist, „rund“zu machen. Idealerwei­se gibt man ihm dafür mindestens ein Jahr, doch wer über die Zeiten eine gewisse Nussschnap­sregelmäßi­gkeit in der Produktion einhält, wird entdecken, dass die noch älteren von ihnen stets die noch besseren sind. Man muss auch nicht unbedingt magenverst­immt sein, um ihn zu verkosten. Es reicht, ein opulentes Mahl eingenomme­n zu haben und dem einen würdigen Abschluss in Form eines Stamperls hinzuzufüg­en, ganz ohne jede Sünde.

 ?? Ute Woltron ?? Für Nussschnap­s sollten die noch unreifen Walnüsse jetzt geerntet werden.
Ute Woltron Für Nussschnap­s sollten die noch unreifen Walnüsse jetzt geerntet werden.

Newspapers in German

Newspapers from Austria