Die hellen Sommernächte
Wir befinden uns in der magischen Zeit des Jahres, wenn man sie denn wahrnehmen und zelebrieren will, unter anderem, indem man den traditionellen Nussschnaps ansetzt.
In einem der unzähligen über die Jahre verschlungenen Bücher – wenn ich nur wüsste, in welchem – kam eine Anekdote vor, in der es um einen alten Weisen und dessen Vorliebe für bestimmte Magenpastillen ging. Er wies seine Umgebung immerzu an, ihm doch bitte das Döschen mit dieser Medizin zu reichen, auf dass er sich Linderung verschaffen und seinen kranken Magen beruhigen könne. Kurz vor dem Ende seiner Tage sprach er in einem Moment fröhlicher Milde, dass er nun ein Letztes beichten wolle.
Die Sache mit den Magenschmerzen, bekannte er, habe er übertrieben. Er wäre vielmehr zeitlebens dem bittersüßen Geschmack der Pastillen verfallen gewesen, eine Untugend, die er nicht hätte zügeln können. Doch wer einmal auf dem verzweigten Pfad der Sünde wandle, erreiche unweigerlich eine nächste Abzweigung, und in seinem Fall wäre das die Sünde der Lüge gewesen.
Ich glaube, man reichte ihm in diesem Moment ein letztes Mal sein Döschen. Vielleicht wünsche ich mir das aber auch nur. Sicher weiß ich aber aus Überlieferungen, dass mein eigener Urgroßvater irgendwann Ähnliches bekannte. Ihm ging es allerdings nicht um bittersüße Pastillen, sondern um einen hochprozentigen Magenbitter, den er selbst aus grünen Nüssen herstellte, und jetzt ist die Zeit, in der sie gepflückt werden müssen, denn es naht der Johannistag.
Wir befinden uns in der hellsten Zeit des Jahres, und jeder einzelne dieser Tage muss ausgekostet und geschmeckt und gepriesen werden. Die Sommersonnenwende steht bevor. Die Glühwürmchen leuchten nur für wenige Wochen durch die Nächte. Die Rosen stehen in voller Blüte. Die Kräuter werden geerntet, denn nie sind sie gehaltvoller und aromatischer als jetzt. Früher hat man aus sieben von ihnen die Johannissträuße gebunden und in der Stube aufgehängt. Die Johannisbeeren reifen, und aus dem frischen, gelb blühenden Johanniskraut setzt man das rubinrote Johannisöl an.
Es ist eine magische Zeit, und der schottische Magier der Worte, John Burnside, beschreibt in seinem Roman „In hellen Sommernächten“einen dieser Abende folgendermaßen: „Es herrschte eine stille, silbrig weiße Dämmerung, die alles in gespenstisches Licht tauchte: Geisterhafte Pfade wanden sich an unserem Haus vorbei zum Strand, als würden sie wie aus ferner Vergangenheit für eine Nacht wieder sichtbar; geisterhafte Vögel schwebten über dem glasigen Wasser des Fjords; geisterhafte Wiesen erstreckten sich kilometerweit in jede Richtung. Jeden Grashalm und jeden Blumenstängel umgab quecksilbriges Licht.“
In dieser Zeit, wie gesagt, geht man hinaus und erntet die noch unreifen Walnüsse in ihren grünen, fetten Hüllen. Glücklicherweise war mein Urgroßvater ein Mann der Schriften und der Schrift, und deshalb ist sein Nussschnapsrezept in anmutigen Lettern erhalten geblieben, und jetzt verrate ich es Ihnen. Bis zum 24. Juni geht man hinaus und erntet 40 Johannisnüsse, denn noch sind die Kerne im Inneren weich, aber bald werden sie verholzen. Nun werden sie halbiert, wenn sie sehr groß sind, geviertelt. Wer keine braunen Finger kriegen will, muss dafür Handschuhe anziehen.
Dann kommen folgende begleitende Zutaten in ein großes Glasgefäß: Zwei Esslöffel Kalmuswurzeln und ein Teelöffel Wermutkraut für das Bittere, ein paar Scheibchen Ingwer und ein paar Muskatblüten, zehn Gewürznelken und zwei Stück Zimtrinde sowie die Schalen einer Orange und einer Zitrone. Im Originalrezept ist ein Kilo brauner Kandiszucker angeführt – wem das zu süß ist, der kann diese Menge reduzieren. Aufgegossen wird zuletzt mit einem Liter Korn oder Wodka.
Das Glas steht nun verschlossen für zumindest zwei Monate auf einer sonnigen Fensterbank. Gelegentliches sanftes Herumschwappen wird empfohlen, und schließlich seiht man das Ganze erst durch ein Sieb und dann durch ein Nylonsöckchen ab, verdünnt die extrem konzentrierte Essenz mit etwa einem Liter destilliertem Wasser und füllt sie in gefällige Flaschen ab.
Jetzt muss der Nussschnaps eine Reifephase durchlaufen, um die Aromen zu amalgamieren und um den Schnaps, der eigentlich ein Likör ist, „rund“zu machen. Idealerweise gibt man ihm dafür mindestens ein Jahr, doch wer über die Zeiten eine gewisse Nussschnapsregelmäßigkeit in der Produktion einhält, wird entdecken, dass die noch älteren von ihnen stets die noch besseren sind. Man muss auch nicht unbedingt magenverstimmt sein, um ihn zu verkosten. Es reicht, ein opulentes Mahl eingenommen zu haben und dem einen würdigen Abschluss in Form eines Stamperls hinzuzufügen, ganz ohne jede Sünde.