Mit Denken bewegen
Gelähmten soll es mit Computerhilfe möglich werden, mit dem Gehirn Gliedmaßen zu steuern und zu kommunizieren. Das geht langsam voran.
Er kann sich überhaupt nicht bewegen. Sein Rollstuhl ist so konstruiert, dass er auf seine Hirnwellen reagiert. Er kann ihn drehen, vorwärts bewegen, rückwärts ein wenig. Mit einem aufblitzenden Licht kann er ,Ja‘ und ,Nein‘ sagen. Aber das ist alles. Sein Geist ist aktiv, aber gefangen in einem nutzlos dahinvegetierenden Körper.“So wurde in einer der ersten Folgen von „Star Trek“Captain Pike beschrieben, der durch einen Strahlenunfall von Kopf bis Fuß paralysiert war, die Technik der Zukunft verhalf ihm zumindest rudimentär zur Freiheit des Bewegens und Kommunizierens.
Das war 1966, aber da war diese Science-Fiction schon von der Realität überholt: Zwei Jahre zuvor hatte der britische Neurophysiologe William Grey Walter einem Patienten Elektroden in das Bewegungszentrum des Gehirns implantiert – während einer Operation zu anderen Zwecken –, mit ihrer Hilfe konnte durch bloßes Denken an die nötige Bewegung ein Knopf eines technischen Geräts gedrückt werden. Publiziert wurde das Experiment nicht, Grey hielt nur einen Vortrag darüber, vielleicht war es Militärforschung, in jedem Fall verboten sich auch damals derartige Menschenversuche.
Der erste von ihnen kam 40 Jahre später, nachdem man sich in Experimenten mit Affen herangetastet hatte: Leigh Hochberg vom Massachusetts General Hospital pflanzte dem 25-jährigen Matt Bradle, der durch einen Unfall querschnittsgelähmt war, 96 Elektroden in das Gehirnzentrum, das dem Bewegungszentrum Befehle erteilt, verbunden waren sie über ein Kabel – bzw. einen Stecker in der Schädeldecke – mit einem Computer, der die Hirnaktivitäten interpretierte und umsetzte, der Patient konnte damit einen Roboterarm bewegen und einen Cursor auf einem PC-Schirm bzw. einer dortigen Tastatur, auf der Buchstaben angeklickt werden konnten, die sich zu Wörtern fügten (Nature 442, S. 164). Das ging mühsam, aber es war das erste Brain-Computer-Interface (BCI), und es war die erste Hoffnung für die allein in den USA 169.000 Menschen, die durch Unfall oder Krankheit – Hirnschlag etwa oder ALS – bei wacher Wahrnehmung und wachem Geist zu Regungslosigkeit verurteilt sind, „locked-in“.
Und denen alle anderen technischen Finessen nicht mehr helfen können: Bei ALS wird der Körper Stück für Stück lahmgelegt, bis hin zum Herz, bewegen lassen sich irgendwann nur noch die Augenlider, so war das beim Physiker Stephen Hawking, der damit bzw. einem Sprachcomputer kommunizieren konnte. Aber wenn sich nicht einmal mehr die Augenlider heben und senken lassen?
So einen Patienten betreute eine Gruppe um den österreichischen Psychologen und Neuroforscher Niels Birbaumer (Uni Tübingen), man wollte ihm mit BCI helfen und pflanzte ihm Elektroden ein. Aber einen Cursor konnte er nicht bewegen, zur Abhilfe spielte man ihm einen Ton vor, den er mit Gehirnaktivitäten verstärken oder abschwächen konnte, Ersteres bedeutete „Ja“, Letzteres „Nein“(Nature Communications 13: 1236).
Schreiben denken. Das ist einer von vielen Versuchen der Verfeinerung des ersten Erfolgs von 2006, der vor allem ein proof of principle war: „Die Bewegungen waren langsam oder unpräzise – oder beides“, erinnert sich Hochberg (Nature 21. 4.). Aber inzwischen hat man insbesondere das Dekodieren der Hirnaktivitäten vorangetrieben – mit maschinellem Lernen, das Muster nicht zu verstehen versucht, sondern sie mit der Absicht des Users verknüpft –, zudem hat man neue Ausdruckswege gesucht: Francis Willett (Stanford) hatte bei einem Patienten Erfolg damit, dass dieser sich vorstellte, er schreibe Wörter mit der Hand – das geht sehr viel rascher als das Anklicken einzelner Buchstaben (Nature 593, S. 2491) –, Edward Chang (UC San Francisco) setzt auf die Vorstellung von gesprochenen Wörtern: So wie das Schreiben Buchstaben kombiniert, geht es beim Reden um eine beschränkte Zahl von Einheiten – Phonemen, das Englische hat 50 –, mit deren Vorstellung gelangen dem Patienten 15 Wörter pro Minute, das ist viel (NEJM 385, S. 212).
Und es geht nicht nur um das Senden von Signalen, sondern auch um das Wahrnehmen des Effekts: Wenn an BCI angeschlossene Personen etwa den Arm eines Roboters bewegen – oder, mit maschinell angeregten Muskeln, den eigenen gelähmten –, dann können sie etwa eine Tasse ergreifen und zum Mund führen. Aber sie sehen das nur, können es nicht spüren. Deshalb hat Robert Gaunt (University of Pittsburgh) einen Roboterarm mit Drucksensoren an den Fingerspitzen ausgestattet, die melden an die zuständige Region im Gehirn, es vermittelt einen entfernten Eindruck des früheren Gefühls, berichtet der Testpatient, ein ALS-Gelähmter, der nicht mehr greifen, aber noch sprechen kann (Science 372, S. 831).
Der erste Patient konnte 2006 einen Cursor bewegen. Aber nur langsam und unpräzise.
Inzwischen lassen sich Befehle des Gehirns rascher in Handlungen umsetzen.
All das vermittelt Hoffnung, ist allerdings weit entfernt von einer Anwendung im Alltag: Die Leistungen werden nur in aufwendigen Sitzungen in Labors erzielt, an Patienten, deren Hirnaktivität entweder mit implantierten Elektroden abgenommen wird – oder, nicht invasiv, außen an der Schädeldecke mit EEG –, die aber in jedem Fall mit einem Computer verkabelt sind. Eine Alternative sieht Thomas Oxley (University of Melbourne) in dem von ihm entwickelten „stentrode“– Stentelectrode recording array –, bei dem mit Elektroden besetzte Stents in einem Blutgefäß nahe der gewünschten Hirnregion platziert werden und das Gemessene drahtlos aus dem Körper senden (Nature Biotechnology 34, S. 320).
All das spielt sich zudem in kleinstem experimentellen Rahmen ab – derzeit haben erdweit um die 35 Patienten Elektroden für BCI implantiert –, es könnte sich ändern, durch einen, der die Realisierung von Science-Fiction zum Geschäftsmodell gemacht hat und damit zum reichsten Mann der Erde geworden ist, Elon Musk. Dieser gründete 2016 die Firma Neuralink, die Mensch und Computer schon auch zu therapeutischen Zwecken verflechten will, vor allem aber zu einem Verbund von natürlicher und künstlicher Intelligenz zum Zwecke der Erweiterung der Fähigkeiten des Menschen („human enhancement“). Erste Versuche mit in Fäden integrierten Elektroden, die die Aktivitäten großer Hirnareale abnehmen, sind nach Firmenangaben an Schweinen und Affen gelaufen, publiziert ist noch nichts.