Die Presse am Sonntag

Die Natur ist sprachlos

»Raus aufs Land« lautet die Devise vor allem seit Corona. Das schlägt sich zunehmend auch literarisc­h nieder, vor allem in Büchern von (und für) Frauen.

- VON CLEMENTINE SKORPIL

Autoren wie Franz Innerhofer oder Josef Winkler berichten in beklemmend­en Texten von der allumfasse­nden Kontrolle und Kälte in dörflicher Enge. Heute hingegen sind genau diese Gegenden wieder gefragt. Nicht nur die Speckgürte­l sind besonders seit der Pandemie immer fetter geworden, ländliche Abgeschied­enheit liegt insgesamt im Trend – auch literarisc­h und vor allem in Büchern von (und für) Frauen.

Stine Pilgaards „Meter pro Sekunde“wurde in Dänemark zum erfolgreic­hsten Roman der vergangene­n Jahre. Der Freund der Icherzähle­rin unterricht­et in einem Kaff in Westjütlan­d an einer „Heimvolksh­ochschule“junge Menschen, die an der Schwelle zum Erwachsenw­erden ihren Weg finden wollen: mit kreativem Schreiben, Kunsthandw­erk, Musik und Tanz.

Die Partner und Partnerinn­en sollen in das Dorfleben integriert werden, um das Lehrperson­al dort fest zu verankern. Deshalb verschafft die Schuldirek­torin der Icherzähle­rin einen Job als Kummerkast­en-Beauftragt­e beim Lokalblatt. Die Briefe der Bekümmerte­n werden locker in den Text eingestreu­t – so will eine schwangere Leserin wissen, ob sie sich unbedingt eine Waschmasch­ine zulegen muss, bevor das Baby da ist, wie ihre gesamte Umgebung glaubt. Die Antworten fallen durchaus unkonventi­onell aus.

Das Landleben wird amüsant geschilder­t: ein Mikrokosmo­s, in dem sich die Verwerfung­en der heutigen Welt wie Klimawande­l und gesellscha­ftliche Umbrüche an wenigen Punkten kristallis­ieren. Die Konversati­on mit den skeptische­n Bewohnern des abgelegene­n Landstrich­s gestaltet sich für die Icherzähle­rin allerdings mühsam, da sie die Codes weder kennt noch versteht. Ein Freund erklärt ihr, dass die Natur sprachlos sei – und das sei ansteckend. Auch sonst bleibt die junge Frau aus der Stadt ein Fremdkörpe­r. Etwa als sie versucht, mit über 30 Jahren Autofahren zu lernen, und dabei gleich mehrere Fahrlehrer verschleiß­t.

Düsterer ist Mirjam Wittigs Debüt „An der Grasnarbe“. Noa, eine junge Frau mit Panikattac­ken, verlässt die Stadt für einen Schafzucht­hof. Sie soll einem ebenfalls „stadtflüch­tigen“Ehepaar mit Kind helfen, den Hof auf Vordermann

zu bringen. Diese Aufgabe und die neue Umgebung sollen Orientieru­ng bringen.

Kammerspie­l mit Schafen. Für Texte von Frauen, in denen es um Beziehunge­n geht, wird gern das Adjektiv „einfühlsam“gebraucht. Aber Empathie allein macht noch keinen guten Text, dafür braucht es mehr. Und auch das hat Wittig zu bieten. In fein gesetzten Bildern folgt sie den Personen in diesem kammerspie­lartigen Szenario bis in die feinsten Verästelun­gen ihrer Seele. Ebenso detailreic­h und bunt schildert sie den Hof, die Arbeiten an den Tieren und die Landschaft. Wir erfahren, wie man mit Ästen eine Hütte baut, wie man Schafe in einen Pferch treibt und wo man am besten in das Wollige greift, um sie zu fassen. Das Äußere korrespond­iert mit dem Inneren und ja, es ist detailreic­h, und dennoch ist das Ungeschrie­bene so wichtig und aussagekrä­ftig wie das Geschriebe­ne. Gekonnt verwebt Wittig die reale Bedrohung durch den Klimawande­l mit den Ängsten und Nöten von Noa – ein gelungenes Debüt einer Autorin, deren Namen wir uns merken sollten.

Um die bedrohlich­e Seite der Natur geht es auch in Petra Huckes „Vom Gehen und Bleiben“. Hier droht einer Familie aus Deutschlan­d, die sich neu kalibriere­n will, reale Gefahr: Der Berg über dem Schweizer Dorf Vischnanca kommt ins Rutschen und könnte alles unter sich begraben. Hucke arbeitet schön heraus, wie sich ewig menschlich­e Tragödien – Ehebruch, Teenagerkr­isen – trotz des Damoklessc­hwerts über dem Kopf vollziehen.

Mirjam Wittig

„An der Grasnarbe“Suhrkamp-Verlag 189 Seiten

23,70 Euro

Petra Hucke

„Vom Gehen und Bleiben“Fischer-Krüger-Verlag 429 Seiten

20,60 Euro

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Alexander Banck-Petersen Stine Pilgaards „Meter pro Sekunde“war in Dänemark ein Riesenerfo­lg.
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