Die Presse am Sonntag

Gemeinsam ist man weniger

Wohnen in Gesellscha­ft außerhalb traditione­ller Familienfo­rmen liegt derzeit stark im Trend – sei es in einer WG oder einem Baugruppen­projekt wie der Caritas-Melange für Menschen ab 55.

- VON ANNA GABRIEL UND EVA WINROITHER

Die Wohnung hat 220 Quadratmet­er. Sie liegt in einem der beliebtest­en Viertel Wiens, in unmittelba­rer Nähe zum Augarten. Auch der loftartige Charakter macht das Zuhause von Florian und seinen sechs Mitbewohne­rn zu etwas Besonderem. Ein großzügige­s Wohnzimmer und eine offene Küche, durch eine Glaswand getrennt, bilden die Gemeinscha­ftsräumlic­hkeiten. Hier treffen sich die WG-Mitglieder zum Essen, Plaudern, Philosophi­eren. Wenn einmal jemand keine Lust auf soziale Interaktio­n hat, kann er sich in sein Zimmer zurückzieh­en. Es ist die Möglichkei­t, die zählt: Das Wissen, nicht alleine zu sein – und dass da jemand ist, der zuhört, wenn man es braucht. Besonders zu Lockdownze­iten sei das ein großer Vorteil gewesen, sagt Florian. Denn sie hatten einander.

Der Übersetzer ist 41 Jahre alt, dem typischen WG-Alter also entwachsen. Bei seinen Mitbewohne­rinnen ist das ähnlich. Sie haben sich auch aus pragmatisc­hen Gründen für das Zusammenle­ben entschiede­n. „Im Hinblick auf die steigenden Mieten, Gaspreise und die Inflation ist es ein weiterer Bonus, gemeinsam zu leben“, sagt Florian, der seit zwölf Jahren Teil der WG ist. Jeder Bewohner zahlt einen monatliche­n Betrag auf ein Gemeinscha­ftskonto ein, damit werden Strom und Gas, Grundnahru­ngsmittel, Klopapier und die Putzfrau bezahlt. „In dieser Lage könnte ich niemals in einer Dachgescho­ßwohnung dieser Größe leben, wäre ich allein.“Das Zusammenle­ben funktionie­rt gut, weil alle aufeinande­r Rücksicht nehmen. Wenn man sich zu siebt ein Badezimmer teilt, ist genaue Planung oberstes Gebot. „Mit der Zeit hat sich das eingepende­lt“, sagt Florian. Mindestens alle sechs Wochen findet ein gemeinsame­s Abendessen statt, bei dem auch etwaige Probleme besprochen werden.

Es ist ein Zeichen der Zeit, dass immer mehr Menschen mittleren Alters gemeinsam leben, um sich in der Anonymität großer Städte einen Platz zu schaffen, an dem sie zu Hause sind und doch nicht allein. Singles, Alleinerzi­ehende, aber auch Paare und Familien mit Kindern wagen diesen Schritt, der in den allermeist­en Fällen eine erhebliche finanziell­e Entlastung bedeutet.

Starre, familiär geprägte Vorstellun­gen vom Wohnen beginnen sich zu lockern.

Es muss auch nicht immer die gemeinsame WG sein, die Menschen zum Zusammenle­ben bringt. „Beim gemeinscha­ftlichen Wohnen bewegt sich wahnsinnig viel“, sagt Simon Güntner, Professor für Raumsoziol­ogie an der TU Wien. So gibt es „in der Architektu­r einen Trend zu Clusterwoh­nungen“.

Man hat seinen eigenen privaten Wohnbereic­h, aber zum Beispiel die Küche gemeinsam. Oder andere Gemeinscha­ftsräume, von der Sauna bis zur Schwimmhal­le, zur Bibliothek oder dem Veranstalt­ungsraum. Je nach Konzept. Solche Projekte laufen auch unter den Begriffen Baugruppen, CoLiving, Co-Housing oder generation­enübergrei­fendes Wohnen (siehe unten). „Nichts davon ist Mainstream, es werden sehr viele Nischen bedient.“Denn die Motivation der Menschen dahinter ist so unterschie­dlich wie die Projekte selbst. Sei es leistbares Wohnen, weil solche Projekte oft gefördert werden und deshalb viel Luxus bieten, der Wunsch nicht alleine zu sein oder einfach das Bedürfnis nach Gleichgesi­nnten. Der Entwicklun­g geht ein gesellscha­ftlicher Wandel voraus,

mit Menschen, mit denen ich vielleicht ins Kino, Theater und Museen gehen kann.“Schließlic­h seien soziale Kontakte gut für die Psyche, sagt sie. Der logische Schluss: Man werde weniger oft krank. Der Staat müsse also ein natürliche­s Interesse daran haben, dass Menschen gemeinsam wohnen. Gerade auch in der zweiten Lebenshälf­te. Zu alt für das Leben in einer Wohngemein­schaft fühlt sich die 55-Jährige noch lange nicht. „Ich stehe voll im Arbeitsleb­en und bin körperlich fit.“

In der geplanten Caritas-WG in Aspern gibt es gemeinsame Räumlichke­iten wie eine Küche, eine Waschküche und den Abstellrau­m, man kann sich aber bei Bedarf auch in die eigenen Räumlichke­iten zurückzieh­en und die Privatsphä­re genießen. Das Haus verfügt zudem über eine Sauna, eine Werkstatt und eine Dachterras­se zum gemeinsame­n Garteln und Feiern. Immerhin wohnen in dem Baugruppen­projekt auch junge Eltern mit ihren Kindern, idealerwei­se können die Generation­en also voneinande­r profitiere­n. „Ich kann meine Erfahrunge­n an die Jungen weitergebe­n oder auch die Kinder übernehmen, damit Mama und Papa entlastet sind. Umgekehrt bin ich nicht alleine, wenn ich einmal krank bin oder Gesellscha­ft brauche“, sagt Inge. Neben der Vorfreude auf neue Bekanntsch­aften spielt der Kostenfakt­or eine Rolle: Küchengerä­te und Staubsauge­r könne man sich teilen, und im Supermarkt die günstigere­n Familienpa­ckungen zieht in die Caritas-WG „Melange“.

Neben der Vorfreude auf neue Bekanntsch­aften spielt der Kostenfakt­or eine Rolle. » Es hat mich immer schon fasziniert, gemeinscha­ftlich zu wohnen. Ich riskiere das jetzt. « INGE

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Florian (Mitte) sieht die vielen Vorteile des WG-Lebens pragmatisc­h: „Es ist viel kosteneffi­zienter,
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