Gemeinsam ist man weniger
Wohnen in Gesellschaft außerhalb traditioneller Familienformen liegt derzeit stark im Trend – sei es in einer WG oder einem Baugruppenprojekt wie der Caritas-Melange für Menschen ab 55.
Die Wohnung hat 220 Quadratmeter. Sie liegt in einem der beliebtesten Viertel Wiens, in unmittelbarer Nähe zum Augarten. Auch der loftartige Charakter macht das Zuhause von Florian und seinen sechs Mitbewohnern zu etwas Besonderem. Ein großzügiges Wohnzimmer und eine offene Küche, durch eine Glaswand getrennt, bilden die Gemeinschaftsräumlichkeiten. Hier treffen sich die WG-Mitglieder zum Essen, Plaudern, Philosophieren. Wenn einmal jemand keine Lust auf soziale Interaktion hat, kann er sich in sein Zimmer zurückziehen. Es ist die Möglichkeit, die zählt: Das Wissen, nicht alleine zu sein – und dass da jemand ist, der zuhört, wenn man es braucht. Besonders zu Lockdownzeiten sei das ein großer Vorteil gewesen, sagt Florian. Denn sie hatten einander.
Der Übersetzer ist 41 Jahre alt, dem typischen WG-Alter also entwachsen. Bei seinen Mitbewohnerinnen ist das ähnlich. Sie haben sich auch aus pragmatischen Gründen für das Zusammenleben entschieden. „Im Hinblick auf die steigenden Mieten, Gaspreise und die Inflation ist es ein weiterer Bonus, gemeinsam zu leben“, sagt Florian, der seit zwölf Jahren Teil der WG ist. Jeder Bewohner zahlt einen monatlichen Betrag auf ein Gemeinschaftskonto ein, damit werden Strom und Gas, Grundnahrungsmittel, Klopapier und die Putzfrau bezahlt. „In dieser Lage könnte ich niemals in einer Dachgeschoßwohnung dieser Größe leben, wäre ich allein.“Das Zusammenleben funktioniert gut, weil alle aufeinander Rücksicht nehmen. Wenn man sich zu siebt ein Badezimmer teilt, ist genaue Planung oberstes Gebot. „Mit der Zeit hat sich das eingependelt“, sagt Florian. Mindestens alle sechs Wochen findet ein gemeinsames Abendessen statt, bei dem auch etwaige Probleme besprochen werden.
Es ist ein Zeichen der Zeit, dass immer mehr Menschen mittleren Alters gemeinsam leben, um sich in der Anonymität großer Städte einen Platz zu schaffen, an dem sie zu Hause sind und doch nicht allein. Singles, Alleinerziehende, aber auch Paare und Familien mit Kindern wagen diesen Schritt, der in den allermeisten Fällen eine erhebliche finanzielle Entlastung bedeutet.
Starre, familiär geprägte Vorstellungen vom Wohnen beginnen sich zu lockern.
Es muss auch nicht immer die gemeinsame WG sein, die Menschen zum Zusammenleben bringt. „Beim gemeinschaftlichen Wohnen bewegt sich wahnsinnig viel“, sagt Simon Güntner, Professor für Raumsoziologie an der TU Wien. So gibt es „in der Architektur einen Trend zu Clusterwohnungen“.
Man hat seinen eigenen privaten Wohnbereich, aber zum Beispiel die Küche gemeinsam. Oder andere Gemeinschaftsräume, von der Sauna bis zur Schwimmhalle, zur Bibliothek oder dem Veranstaltungsraum. Je nach Konzept. Solche Projekte laufen auch unter den Begriffen Baugruppen, CoLiving, Co-Housing oder generationenübergreifendes Wohnen (siehe unten). „Nichts davon ist Mainstream, es werden sehr viele Nischen bedient.“Denn die Motivation der Menschen dahinter ist so unterschiedlich wie die Projekte selbst. Sei es leistbares Wohnen, weil solche Projekte oft gefördert werden und deshalb viel Luxus bieten, der Wunsch nicht alleine zu sein oder einfach das Bedürfnis nach Gleichgesinnten. Der Entwicklung geht ein gesellschaftlicher Wandel voraus,
mit Menschen, mit denen ich vielleicht ins Kino, Theater und Museen gehen kann.“Schließlich seien soziale Kontakte gut für die Psyche, sagt sie. Der logische Schluss: Man werde weniger oft krank. Der Staat müsse also ein natürliches Interesse daran haben, dass Menschen gemeinsam wohnen. Gerade auch in der zweiten Lebenshälfte. Zu alt für das Leben in einer Wohngemeinschaft fühlt sich die 55-Jährige noch lange nicht. „Ich stehe voll im Arbeitsleben und bin körperlich fit.“
In der geplanten Caritas-WG in Aspern gibt es gemeinsame Räumlichkeiten wie eine Küche, eine Waschküche und den Abstellraum, man kann sich aber bei Bedarf auch in die eigenen Räumlichkeiten zurückziehen und die Privatsphäre genießen. Das Haus verfügt zudem über eine Sauna, eine Werkstatt und eine Dachterrasse zum gemeinsamen Garteln und Feiern. Immerhin wohnen in dem Baugruppenprojekt auch junge Eltern mit ihren Kindern, idealerweise können die Generationen also voneinander profitieren. „Ich kann meine Erfahrungen an die Jungen weitergeben oder auch die Kinder übernehmen, damit Mama und Papa entlastet sind. Umgekehrt bin ich nicht alleine, wenn ich einmal krank bin oder Gesellschaft brauche“, sagt Inge. Neben der Vorfreude auf neue Bekanntschaften spielt der Kostenfaktor eine Rolle: Küchengeräte und Staubsauger könne man sich teilen, und im Supermarkt die günstigeren Familienpackungen zieht in die Caritas-WG „Melange“.
Neben der Vorfreude auf neue Bekanntschaften spielt der Kostenfaktor eine Rolle. » Es hat mich immer schon fasziniert, gemeinschaftlich zu wohnen. Ich riskiere das jetzt. « INGE