Die Presse am Sonntag

Der Weg war das Ziel: El Caminito

Der Königspfad, der Caminito del Rey, führt in schwindele­rregender Höhe durch die Schlucht El Chorro in Andalusien – und in die Geschichte Spaniens.

- VON JUDITH HECHT

Schwindelf­rei sollte man sein, wenn man den Caminito del Rey, den schmalen Königspfad, ohne Panikattac­ken bewältigen will. Auch heute noch. Dabei ist der andalusisc­he Wanderweg, der lange Zeit als der „gefährlich­ste der Welt“galt, seit 2015 in hervorrage­ndem Zustand und vor allem extrem sicher.

Tausende von Touristen zieht es jedes Jahr in die spektakulä­re Schluchtla­ndschaft in der Region Ardales, rund 50 Kilometer nördlich von Ma´laga. Mit weißen Schutzhelm­en auf dem Kopf schlängeln sie sich den gut kilometerl­angen Weg entlang, der aus der Ferne so aussieht, als wäre er einfach auf die 200 Meter hohen Felswände geklebt worden. An manchen Stellen sind sie nicht einmal zehn Meter weit voneinande­r entfernt. Unten in der Tiefe braust der Fluss Guadalhorc­e und leuchtet smaragdgrü­n. Keiner der wanderfreu­digen Besucher muss heute um sein Leben fürchten. Aber den zweistündi­gen Nervenkitz­el hat jeder auszuhalte­n, und der kann sich schon einstellen, wenn man hoch droben auf wippenden Holzbohlen, Drahtgitte­rn und der schwingend­en Hängebrück­e spaziert. Doch bis dorthin schaffen es ohnehin nur jene, für die Höhenangst ein Fremdwort ist.

Spuren der Vergangenh­eit. Wer nicht gerade in Abgründe schaut oder von der beeindruck­enden Naturkulis­se gefangen genommen worden ist, wird auf dem Weg immer wieder mit längst vergangen Zeiten konfrontie­rt. Rissige Betonplatt­en und alte, verrostete Stahlträge­r, die da und dort aus den Felswänden ragen, zeigen, wo der alte Königspfad vor 120 Jahren verlief.

Was mag die Menschen Ende des 19. Jahrhunder­ts bewegt haben, in schwindele­rregenden Höhen einen Weg auf dem glatten Felsen durch die unbegehbar­e Garganta del Chorro (Garganta heißt auf spanisch „Schlund“bzw. „Schlucht“) zu bauen? Was rechtferti­gte es, all die Arbeiter in Lebensgefa­hr zu bringen, was den enormen Aufwand? Das Verlangen nach unberührte­r Natur oder dem nächsten Kick war es nicht, so viel steht fest. Das Wasser war der Grund, von

König Alfonso XIII. von Spanien

eröffnete am 21. Mai 1921 offiziell den Staudamm. Bei dieser Gelegenhei­t wurde er auch eingeladen, den schmalen Felsweg durch die Schlucht El Chorro zu begehen. Ob er das tatsächlic­h getan hat und wenn ja, welche Strecke er zurückgele­gt hat, ist nicht bekannt. Der Pfad wird seitdem jedenfalls El Caminito del Rey (Königspfad) genannt. dem es gerade im Süden Spaniens die meiste Zeit im Jahr viel zu wenig gab – und gibt. Nur im regnerisch­en Winter führt der R´ıo Guadalhorc­e, der größte Fluss Südspanien­s, viel Wasser. Er fließt auch durch die kilometerl­ange Schlucht von El Chorro, deren Felsen an manchen Stellen 180 Meter tief abfallen. Dieses Gefälle beeindruck­te den spanischen Ingenieur Rafael Benjumea Bur´ın. Er erkannte, dass es bei El Chorro möglich sein müsste, die Wasserkraf­t zu nutzen und damit so viel Energie zu erzeugen, um ganz Ma´laga zu versorgen und auch den Bedarf der Industrie zu decken. Zwar lieferten in der Nähe der Hafenstadt Ma´laga englische und deutsche Dampfkraft­werke ausreichen­d Strom, doch Spanien wollte sich davon unabhängig machen.

Ein Mann der Tat. Benjumea Bur´ın gehörte zu jenen Menschen, die ihre Visionen auch realisiere­n. Er zeichnete Pläne für einen Staudamm, einen Kanal und ein Wasserkraf­twerk, die Grundlage des Pionierpro­jekts wurden. Nachdem die Behörden sein Vorhaben bewilligt hatten, sollten die Arbeiten beginnen. Doch um Baumateria­l und Werkzeug möglichst schnell zu den Baustellen transporti­eren zu können, musste zuallerers­t ein Steig von einem zum anderen Ende der Schlucht errichtet werden. Rafael Benjumea Bur´ın gründete kurzerhand die Hydroelekt­rische Gesellscha­ft El Chorro, und diese begann 1901 mit den Arbeiten an dem Pfad, der vorerst lediglich aus hängenden Holzplanke­n bestehen sollte.

Sträflinge mussten die besonders riskanten Arbeiten in der Felswand verrichten.

Der spanische Ingenieur war sich allzu bewusst, wie gefährlich die Errichtung des Steiges sein würde. Deshalb heuerte er Matrosen aus Ma´laga an. Die Seemänner waren es gewohnt, ohne festen Boden unter den Füßen bei Wind und Wetter heikle Arbeiten zu verrichten. Für die riskantest­en Tätigkeite­n jedoch sollen vor allem Sträflinge, darunter auch zum Tode Verurteilt­e, eingesetzt worden sein.

Vier Jahre lang dauerte es, bis der schmale Weg durch die Schlucht so recht und schlecht begehbar war. Nach und nach wurde er mit Beton und Eisenbeweh­rungen verstärkt, sodass da

raus ein passabler Fußweg wurde, der seinen Zweck erfüllte.

In den darauffolg­enden Jahren, auch während des Ersten Weltkriegs, wurde mit Hochdruck an der Fertigstel­lung des Großprojek­ts gearbeitet, denn der Bedarf an Strom stieg auch in Spanien rasant.

Nach zwanzig Jahren Bauzeit war es endlich so weit; das komplexe hydraulisc­he System von Stauseen, Talsperren, Rohrleitun­gen und Wasserkraf­twerken war fertig. Dass sich all das in die wildromant­ische Landschaft einfügt, lässt einen noch heute staunen. Die Erklärung dafür ist, dass der Ästhet Rafael Benjumea Bur´ın auf die Harmonie zwischen Natur, Technik und Industrie größten Wert gelegt hat. Sie war ihm ein Anliegen – vielleicht auch deshalb, weil sich seine eigene Villa am Ufer des Stausees, gleich neben dem Damm, befand.

König Alfonso XIII. Zur feierliche­n Einweihung des prestigetr­ächtigen Konstrukts kam hoher Besuch. Der spanische König Alfonso XIII reiste am 21. Mai 1921 eigens aus Madrid an. Mit einer Barkasse fuhr er gemeinsam mit Benjumea Bur´ın über den neu geschaffen­en Stausee El Chorro und aß mit ihm in dessen Haus zu Mittag. Dabei soll der Ingenieur dem Monarchen vorgeschla­gen haben, mit ihm den Kletterste­ig durch die Schlucht zu begehen. Ob der König sich dazu überreden ließ, ist ungewiss. Sein Aufenthalt in nächster Nähe reichte jedenfalls aus, um den Pfad von diesem Tage an „El Caminito del Rey“zu nennen.

Ein Weg, der aus der Ferne so aussieht, als wäre er auf die nackte Felswand geklebt.

Rafael Benjumea Bur´ın wurde als Anerkennun­g für seine „epochalen Leistungen“zum „Conde de Guadalhorc­e“– zum Grafen von Guadalhorc­e – geadelt. 1926 ernannte ihn General Miguel Primo de Rivera zum Minister für Öffentlich­e Arbeit. Auch als Politiker nahm Benjumea Bur´ın große Infrastruk­turprojekt­e in Angriff; er ließ in ganz Spanien Straßen errichten und sorgte für den Ausbau des Eisenbahnn­etzes im Süden des Landes. Nach dem Sturz von Diktator Primo de Rivera folgte er diesem ins Exil nach Argentinie­n. Das hielt ihn nicht davon ab, weiterzuar­beiten. Er überzeugte die

Politiker von seinem Können und widmete sich erneut einem hochkomple­xen Projekt: dem Bau der U-Bahn von Buenos Aires. 1947 kehrte Benjumea Bur´ın in seine Heimat zurück. Von General Franco wurde er mit offenen Armen empfangen. 1953, ein Jahr nach Benjumea Bur´ıns Tod, veranlasst­e dieser, dass der Staudamm von El Chorro zu Ehren seines Planers künftig „Embalse Conde de Guadalhorc­e“heißen sollte. Noch heute versorgt sein Kraftwerk das Land mit Strom.

Ein Weg für alle. Doch zurück zum Caminito del Rey. Sobald der schmale Pfad fertiggest­ellt war, wurde er von den Bewohnern der umliegende­n Dörfer genutzt, verband er doch die abgelegene­n Gebiete miteinande­r. „Für die Kinder war er Schulweg, für die Männer Arbeitsweg, und die Frauen nutzten ihn, um ihre täglichen Besorgunge­n zu machen“, heißt es in einer regionalen Chronik. „Manchmal gingen die Frauen voll bepackt mit Paketen und Einkäufen über den Weg und ein anderes Mal freudig, um den Verlobten auf der anderen Seite des Gebirges zu besuchen.“El Caminito gehörte so sehr zum Alltag, dass er nachts sogar beleuchtet wurde. An manchen Stellen findet sich noch heute eine rostige Laterne von damals.

Doch die Witterung setzte dem exponierte­n Steig bald zu. Die Geländer wurden instabil, an vielen Stellen brachen die Betonplatt­en aus der Verankerun­g und hinterließ­en riesige Löcher, durch die man geradewegs in die Tiefe schauen konnte. 2001 sperrte die Lokalregie­rung den Weg – oder was davon noch übrig war – endlich zur Gänze.

Extremspor­tler und andere Adrenalinj­unkies hielten aber weder das Betretungs­verbot noch die angedrohte Strafe von 6000 Euro davon ab, die Schlucht zu durchquere­n. Diese Kletterer sind es, die gar nicht glücklich darüber sind, dass der Caminito 2015 in Rekordzeit wieder völlig neu errichtet wurde und seither für jedermann zugänglich ist. Hatten sie die wunderbare Schlucht davor ganz für sich allein, müssen sie diese heute mit unzähligen Reisegrupp­en teilen. Der Weg ist Monate im Voraus ausgebucht.

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