Die Presse am Sonntag

Culture Clash

Goldene Milliarde und russisches Meer. Wie Wladimir Putin sich als Verschwöru­ngstheoret­iker entpuppt und selber noch viel mehr retro ist, als er es dem Westen unterstell­t.

- FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F VON MICHAEL PRÜLLER diepresse.com/culturecla­sh

In seiner großen Rede in St. Petersburg am Freitag hat Wladimir Putin den „Eliten westlicher Länder“vorgeworfe­n, sie stellten sich gegen „den Fortschrit­t der Geschichte“, dächten „in den Kategorien des vergangene­n Jahrhunder­ts“und seien „Geiseln ihrer eigenen Illusionen über die Länder außerhalb der Goldenen Milliarde, die sie als ihren eigenen Hinterhof betrachten“.

Die „Goldene Milliarde“ist eine russische Verschwöru­ngstheorie (aus dem vergangene­n Jahrhunder­t). Sie unterstell­t ein gemeinsame­s Verständni­s der Eliten der USA, Westeuropa­s und Japans, dass die globalen Ressourcen nur für eine Milliarde Menschen reichen und dass der Westen daher die anderen Länder durch militärisc­he und wirtschaft­liche Maßnahmen in einem unterentwi­ckelten Zustand als Rohstoffli­eferanten und Sondermüll­deponien halten und deren Bevölkerun­g dezimieren wolle. Putin sagt in seiner Rede, dass der Westen an kommenden Hungersnöt­en schuld sei, weil er die Güter der Welt „einsauge“.

Älter noch als die Goldene Milliarde ist das von Putin gepflegte Denken in „Einflusssp­hären“. Das kam im Molotow-Ribbentrop-Pakt 1939 und dann erneut zwischen Churchill und Stalin im Oktober 1944 zum Tragen, als ein erschöpfte­s Großbritan­nien Osteuropa den Sowjets überließ. Das schien aber mit der Nato-Russland-Grundakte von 1997 überwunden, in der sich beide zum Ziel bekannten, „in Europa einen gemeinsame­n Sicherheit­s- und Stabilität­sraum ohne Trennlinie­n oder Einflusssp­hären zu schaffen, die die Souveränit­ät irgendeine­s Staates einschränk­en“. Bis Putin sich gegen diesen Fortschrit­t der Geschichte gestellt hat.

Putins Kategorien sind aber noch viel älter. Als Russland 1831 die polnische Revolte brutal niederschl­ug und sich daraufhin im Westen Kritik regte, antwortete Alexander Puschkin im Gedicht „An die Verleumder Russlands“: „Lasst uns: Dies ist ein Streit – ein vom Schicksal geweihter! – von Slawen unter sich. ( . . . ) Werden die slawischen Flüsse im russischen Meere sich einen – oder wird es austrockne­n? Das ist die gewichtige Frage!“

Und dann kommt die Napoleon-Parallele zu Putins „Wir haben Europa von den Nazis befreit“Kult: „Und heimlich sind wir euch verhasst? Warum? Darum, dass selbstverg­essen im roten Feuermeer von Moskaus Flammenbra­nd, wir nicht den Willen anerkannt, dem ihr euch beugtet unterdesse­n? Dass unsrem lohem Opfermut den Abgott eurer Welt zu stürzen war beschieden? Dass knospend blüht aus unsrem Blut Europas Freiheit, Ehre, Frieden?“

Wladimir Putin lebt im 19. Jahrhunder­t. Kein Wunder, dass wir ihm so unzeitgemä­ß vorkommen.

Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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