Die Jagd nach den Kriegsverbrechern
In einer beispiellosen Recherche und praktisch in Echtzeit sammeln ukrainische Behörden, eine Reihe von Staaten, NGOs, Aktivisten und auch die UNO Beweise für die Verbrechen russischer Soldaten in der Ukraine. Doch was folgt danach?
Knapp 30 Tage im kalten Keller der örtlichen Schule, Yahidne, südlich von Chernihiw. Manche verstarben, wegen Hunger, Schwäche und Krankheiten, andere wurden von russischen Soldaten erschossen. Das erzählen die Kellerwände, einige der mehr als 360 Geiseln kritzelten Namen und Daten der Toten, und auch ihre eigenen Adressen an den feuchten Verputz. Mit einer Handykamera nahm jemand auf, unter welchen miserablen Bedingungen die Zivilbevölkerung hier hausen musste. Toiletten gab es keine. Essen wurde nur spärlich verteilt, erzählen Überlebende, die Toten wurden in einem Boilerraum aufeinandergestapelt, wo sie tagelang verwesten.
Angesprochen auf Yahidne sprach ein leicht gereizter Sergej Lawrow in einem BBC-Interview von „fake news“, die der „Westen“verbreite, die derselbe „Westen“den Vereinten Nationen als Wahrheit und Verbrechen unterjuble. Ob Russland also eine weiße Weste habe, fragte Journalist Steve Rosenberg nach. „Russland hat keine weiße Weste“, empörte sich der Außenminister, „Russland ist, wie es ist, und wir schämen uns nicht zu zeigen, wer wir sind.“Worte, die in Butscha, Irpin und Yahidne dunkel nachhallen, an allen Orten in der Ukraine, die Schauplatz mutmaßlicher Kriegsverbrechen waren – und sind. Und überall dort, wo die Überlebenden in der Lage dazu sind, dokumentieren sie die Gräuel, die sie gesehen, erfahren haben. Und nicht nur sie.
Spätestens nach den Bildern aus Butscha, nach den mutmaßlichen Massakern an der Zivilbevölkerung, bereitet sich die internationale Gemeinschaft auf die Jagd nach den Kriegsverbrechern vor, und diese Jagd ist beispiellos. Akribisch und praktisch in Echtzeit sammeln Behörden, Journalisten und NGOs Beweismaterial, sie interviewen Überlebende und Augenzeugen, sie fotografieren, werten Satellitenaufnahmen aus, suchen und finden Massengräber. Dank ihrer Smartphones teilen Zivilisten das Geschehene mit der globalen Öffentlichkeit. Auf der ganzen Welt durchforsten Aktivisten und Freiwillige die Profile russischer Soldaten in sozialen Medien nach Hinweisen. Die Liste der ukrainischen und internationalen Initiativen zur Beweissammlung erweitert sich täglich. Es ist ein massives, globales Unterfangen.
Die Ukraine hat eine Website ins Leben gerufen (war.ukraine.ua), die mutmaßliche Kriegsverbrechen dokumentiert und auch sammelt. Mittels eines eigenen Chatbots können Bürgerinnen und Bürger den Behörden Verbrechen und Gräueltaten melden; die behördlich freigegebene Verwendung von Apps, Gesichtserkennungssoftware oder Standorttracking auf der Suche nach Tätern ist einzigartig in der modernen Kriegsgeschichte. Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa bereitet derzeit eine Reihe von Kriegsverbrecherprozessen vor. „Wir alle wissen“, sagte sie jüngst der „Deutschen Welle“, „wer verantwortlich ist.“Den Namen Wladimir Putin musste sie dabei nicht einmal aussprechen.
Auf dem Feld. Die USA haben mit „Conflict Observatory“ein eigenes Programm ins Leben gerufen, um Beweise für Kriegsverbrechen in der Ukraine zu sammeln. Das Schweizer Bundesamt für Polizei, Fedpol, befragt Geflüchtete nach Verbrechen und Gräueltaten und dokumentiert diese; Betroffene können sich über eine eigens eingerichtete Website melden. Das deutsche Bundeskriminalamt ermittelt ebenfalls. In Österreich nahm der Nationalrat einstimmig eine Entschließung an, die Ukraine bei der Verfolgung mutmaßlicher Kriegsverbrechen zu unterstützen. Die NGO Human Rights Watch hat Zusammenfassungen von Augenzeugenberichten online gestellt.
„Journalisten haben Zugang zu einer riesigen Menge an Informationen“, erzählt indessen die US-amerikanische Kriegsreporterin Janine di Giovanni, „Informationen, die bei der Aufklärung von Verbrechen helfen können.“Di Giovanni hat in Washington das Projekt „The Reckoning Project“ins Leben gerufen, das unter anderem von US-Behörden finanziert wird. Mehr als zwei Dutzend ukrainische Journalistinnen und Journalisten dokumentieren vor Ort mutmaßliche Kriegsverbrechen und arbeiten mit Juristen und anderen Experten zusammen. Das Ziel sei, so di Giovanni, 150 wasserdichte Fälle zu sammeln. Dabei gehe es nicht nur um jene Verbrechen, die seit dem Angriffskrieg im Februar geschehen sind; der Krieg tobe schließlich seit acht Jahren.
Später sollen die gesammelten Fälle Anwälten in London und dem Internationalen Strafgerichtshof übergeben werden. „Wir selbst sind nicht die Polizei“, sagt di Giovanni, „wir fokussieren uns auf die Arbeit auf dem Feld.“
Auf dem Feld war auch die neu errichtete Kommission zur Untersuchung von mutmaßlichen Verbrechen des UN-Menschenrechtsrats. Vergangene Woche berichteten die Mitglieder in einer Pressekonferenz von ihrem zehntägigen Besuch in Kiew, Butscha, Irpin, Charkiw und Sumy. Die Kommission habe unter anderem Berichte über willkürliche Erschießungen, Plünderungen, Angriffe auf Infrastruktur und vor allem Schulen erhalten, sagte der Leiter, Erik Møse. Und er räumte ein, dass es bei der Beweisfindung zu Überschneidungen kommen könne, angesichts der vielen Initiativen und angesichts der Tatsache, dass auch der Internationale Strafgerichtshof mutmaßliche Kriegsverbrechen untersucht. Es stellen sich also die Fragen: Wer behält den Überblick? Und vor allem: Wo sollen die Tatverdächtigen vor Gericht gestellt werden?
Kaum Auslieferung. Zunächst bedeutet die Dokumentation per se nicht, dass am Ende Beweise vorliegen. „Während des Tschetschenien-Kriegs haben wir gesehen, wie aufwendig eine wasserdichte Dokumentation ist“, sagt Osteuropa-Historiker Jan Claas Behrends vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Die aktuelle, rege Tätigkeit wird wohl dazu führen, dass wir am Ende viel wissen und viel erfahren – aber ob die Täter je vor Gericht landen, das ist die andere Frage. In Russland selbst werde es kaum Prozesse geben, so Behrends. „Nach dem Afghanistan-Krieg ist auch niemand belangt worden, obwohl es zu massiven Kriegsverbrechen gekommen ist.“
Wenn also mögliche Täter nicht gerade in ukrainische Gefangenschaft geraten oder später sorglos das Land verlassen und im Ausland verhaftet werden, bleibt die Verfolgung fraglich. Ausliefern werde Moskau wohl kaum jemanden; selbst im Fall eines Regimewechsels bleibt Behrends skeptisch. Und innerhalb der Armee gebe es eine Art stillschweigende Übereinkunft darüber, dass Verbrechen nicht bestraft werden. Schließlich ist die Brutalität von vielen russischen Soldaten kein neues Phänomen, auf der Krim und im Donbass passieren seit geraumer Zeit
Gräueltaten in beträchtlichem Ausmaß. Militärexperten führen die Brutalität als Modus Operandi auf viele Gründe zurück, etwa darauf, dass es im Vergleich zu Nato-Armeen nur wenige Unteroffiziere gibt, die als Puffer zwischen ganz oben und ganz unten wirken und auch für innere Disziplin sorgen. Oder darauf, dass Soldaten kaum über die Genfer Konventionen ausgebildet werden.
Befehlskette. Selbst ein Krieg befolgt Regeln. Angriffe auf Zivilisten oder auf die Infrastruktur sind geächtet, so auch der Einsatz gewisser Waffen. Der Angriff auf das Theater von Mariupol Mitte März, in dem eindeutig Zivilisten Zuflucht gesucht haben, wird die Gerichte wohl ebenso beschäftigen wie zahllose Berichte über Vergewaltigungen,
Die Dokumentation an sich bedeutet nicht, dass am Ende Beweise vorliegen.
Etliche Fälle von Folter und Vergewaltigungen werden die Gerichte beschäftigen.
Erschießungen, Folter, unvorstellbare Gewalt. Abgesehen von den unmittelbaren Tätern versuchen die Beweissammler auch, die Befehlskette nachzuvollziehen, um Kommandierende auszumachen, die entweder wissentlich weggeschaut oder gar verbrecherische Befehle erteilt haben.
Dass die meisten Tatverdächtigen vor einem ukrainischen Gericht landen, erscheint nach jetzigem Stand der Dinge eben nicht sehr wahrscheinlich. Doch darüber hinaus kommen Gerichte jener Länder in Betracht, die das Weltrechtsprinzip in ihrem Strafrecht verankert haben, sagt Ralph Janik, Völkerrechtswissenschaftler und Lektor an der Universität Wien: Demnach können besonders schwerwiegende Taten – unabhängig vom Ort der Tat – vor ein Gericht etwa in Deutschland oder Österreich kommen. Janik verweist auch auf mögliche Ad-hoc-Strafgerichte; erst vor wenigen Tagen hat der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskij, ein derartiges Tribunal zur Ahndung russischer Kriegsverbrechen gefordert.
Theoretisch könnte die russische Führung vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag landen, „wenn man eine Kette der Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder gar des Völkermords bauen kann“, so Janik. Doch dazu brauche es einen Haftbefehl – und schließlich eine Auslieferung.