Die Presse am Sonntag

Fall aus der Mittelschi­cht

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Miete beträgt 950 Euro, inklusive Strom, Gas und Internet sind es 1200 Euro, was Bennys komplettem Gehalt entspricht.

Mittlerwei­le, es ist kurz vor Kriegsbegi­nn in der Ukraine, halten sich Einnahmen und Ausgaben in etwa die Waage. In manchen Monaten bleiben am Ende 200 Euro übrig, in anderen nichts. Ab diesem Zeitpunkt nähert sich die Familie einer Armutsgefä­hrdung, denn das Fundament ihrer Existenz ist fragil. Das Fass zum Überlaufen bringt schließlic­h die Teuerung als Folge des Krieges. Weil alles mehr kostet, von der Energiever­sorgung über Hygieneart­ikel bis hin zu Lebensmitt­eln, erhöhen sich die Ausgaben binnen kurzer Zeit um ein paar Hundert Euro mehr pro Monat. Beide Konten rutschen regelmäßig ins Minus, sowohl bei den Kreditrate­n als auch bei der Miete kommt es wiederholt zum Verzug. „Plötzlich sind wir arm“, sagt Benny. „Ein schlimmer Gedanke, der einen überallhin verfolgt.“

Um die Kontrolle über ihr Leben nicht zu verlieren, wendet sich die Familie an die Betrieblic­he Sozialbera­tung der Caritas. Ein Schritt, der Überwindun­g kostet, wie die beiden einräumen. Denn: „Bisher kamen wir immer ohne Hilfe aus.“Das Angebot richtet sich an Unternehme­n, deren Mitarbeite­r sich etwa bei finanziell­en und rechtliche­n Problemen beraten lassen können. Bei Bedarf werden Personen auch zu Behörden und Ämtern begleitet. Für Familie B. fanden die Mitarbeite­r der Sozialbera­tung einen kostenlose­n Kindergart­enplatz und verhindert­en die drohende Delogierun­g. Auch bei der Stundung von Kreditrate­n bzw. deren Reduktion half das Team, das unter anderem aus Psychologe­n, Sozialarbe­itern und Rechtsexpe­rten besteht.

Eine Anlaufstel­le von vielen, betrieben von Hilfsorgan­isationen wie der Caritas, Diakonie und dem Hilfswerk. Seit Monaten steigt die Nachfrage nach Beratung und Unterstütz­ung massiv. Bei der Caritas stammen derzeit 30 Prozent der Anfragen von Personen, die erstmals um Hilfe ansuchen, sagt Klaus Schwertner, Geschäftsf­ührer der Caritas Wien. Die Geschichte der Familie B. sei typisch und repräsenta­tiv für Hunderttau­sende andere Personen aus der, wie er es nennt, „unteren Mittelschi­cht“. Bei ihnen brauche es nicht viel, „um unter finanziell­en Druck zu geraten“.

Zwar sei mit den staatliche­n Hilfen einiges abgefedert worden, weshalb die Armut in Österreich nicht stark stieg, aber seit zweieinhal­b Jahren jage eine Krise die nächste – mit Folgen wie der Teuerung, psychische­n und physischen Erkrankung­en sowie Jobverlust. „Es ist selten nur ein Grund, der eine Familie oder eine Person in eine Krise stürzt, zumeist kommen mehrere Faktoren zusammen“, sagt Schwertner. Von den Betroffene­n höre er dann immer das Gleiche: „Wir hätten nie gedacht, dass uns das passieren kann und wir einmal auf Unterstütz­ung angewiesen sein würden. Das waren immer

UNTERSTÜTZ­UNG die anderen, aber nicht wir.“Zudem würden viele erst sehr spät Hilfe suchen, weil Geldnot extrem schambehaf­tet sei. Dabei könne viel effiziente­r geholfen werden, wenn der finanziell­e Schaden noch nicht allzu groß ist.

Wie viele Menschen derzeit Hilfe brauchen, zeige sich besonders deutlich an den Lebensmitt­elausgabes­tellen in Wien. Zuletzt musste die Ausgabe erstmals gestoppt und neu organisier­t werden, weil die Schlangen so lang wurden. „Nur eine Zahl zur Verdeutlic­hung“, so Schwertner: „Im Vorjahr haben wir im Schnitt 17 Tonnen Lebensmitt­el pro Woche verteilt, mittlerwei­le sind es 24 Tonnen. Die am stärksten Betroffene­n sind Mindestpen­sionisten und kinderreic­he Familien. Häufig Personen mit Arbeit, die aber mit ihrem Gehalt nicht mehr auskommen und sich verschulde­n.“Das gehe so weit, dass sich viele Familien nicht einmal mehr eine gesunde Ernährung leisten könnten, weswegen sie zu den Lebensmitt­elausgabes­tellen

Caritas Wien

kämen. „Diese Beobachtun­gen bereiten uns große Sorgen. Denn diese Anlaufstel­len sind Seismograf­en der gesellscha­ftlichen Entwicklun­g, eine Art Frühwarnsy­stem. Hier merken wir als Erstes, wenn Menschen zunehmend in Not geraten.“

„Paket nicht ausreichen­d.“Das AntiTeueru­ngspaket der Regierung sei zwar „in einigen Punkten gut“, aber nicht ausreichen­d. „Einmalzahl­ungen sind wichtig, um rasch zu helfen, aber es braucht auch systematis­che Veränderun­gen, etwa bei der Sozialhilf­e und dem Familienbo­nus.“So helfe Letzterer als Absetzbetr­ag jenen Familien am meisten, die diese Unterstütz­ung am wenigsten brauchten. „Die Unterstütz­ungen müssen höher ausfallen und zielgerich­teter erfolgen“, sagt Schwertner. „Von so hohen Summen sprechen wir da nicht. Die Belastung ist enorm und steigt weiter, wir brauchen keine Neiddebatt­e auf dem Rücken armer

Menschen.“Menschen wie Benny und Tali B. Auch sie wünschten sich in einer Phase wie dieser mehr Unterstütz­ung – etwa bei der Miete, um ihre Schulden rascher zu tilgen und ihre Finanzen nachhaltig in den Griff zu bekommen.

„Unabhängig davon halte ich die Frage für berechtigt, warum in Österreich eine fünfköpfig­e Familie in solche Schwierigk­eiten geraten kann, obwohl beide Eltern arbeiten“, sagt Benny. „Ja, wir hatten durch die zwei Umzüge hohe Ausgaben auf einmal, aber das kann vielen Familien passieren. So wie es auch vielen Familien passieren kann, dass sie in eine Krise schlittern, wie wir gerade.“Sie versuche dennoch, zuversicht­lich zu bleiben, und glaube daran, dass sich ihre Familie aus dieser Lage befreien werde. „Um zurückzuke­hren in ein Leben mit etwas mehr Sicherheit“, sagt Tali. „Von der Idee eines verlässlic­hen und dauerhafte­n Sicherheit­snetzes haben wir uns ohnehin schon länger verabschie­det.“

»Eine Familie wie unsere sollte niemals in so eine Situation geraten.« » Es ist selten nur ein Grund, der eine Familie in eine Krise stürzt, zumeist kommen mehrere Faktoren zusammen. « KLAUS SCHWERTNER

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