Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

Mit dem Begriff Technosphä­re – der Summe aller technische­n Artefakte – wurde eine Metapher geschaffen, die das schwierige Verhältnis Mensch–Umwelt gut beschreibt.

- BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT VON MARTIN KUGLER diepresse.com/wortderwoc­he

Wir leben in einer ganz besonderen Zeit – und ich spreche jetzt nicht von der multiplen Krise (Corona, Krieg, Klimawande­l, Inflation usw.), die uns derzeit heimsucht: Dieser Jahre, so haben Wissenscha­ftler berechnet, übersteigt die Masse alle technische­n Güter, die wir geschaffen haben – in Summe rund 1,1 Billionen Tonnen –, erstmals jene von allen Lebewesen auf der Erde zusammen. Zwei Drittel davon sind Baumateria­lien (Beton, Ziegel, Asphalt etc.), aber auch Stahl und andere Metalle wiegen in der Statistik schwer; Plastik hingegen spielt dabei nur eine Nebenrolle. Um das Ganze etwas anschaulic­her zu machen: Auf jeden Menschen entfallen derzeit rund 140 Tonnen technische Materialie­n. Oder: Der Eiffelturm ist schwerer als alle lebenden Nashörner zusammen.

Kein Wunder, dass manche Wissenscha­ftler bereits von einer „Technosphä­re“reden, die der Biosphäre (sowie der Atmo-, Hydro- und Lithosphär­e) an die Seite gestellt werden müsse. Dieser Begriff wurde 2014 vom US-Geologen Peter Haff geprägt. Er meint, dass die Menschheit schon längst nicht mehr ohne Technosphä­re überleben könne – dass uns aber mittlerwei­le die Kontrolle über sie entglitten ist: Die Technosphä­re hat Haff zufolge eigene Gesetzlich­keiten entwickelt und sei, wie es sein Fachkolleg­e Mark Williams ausdrückt, zu einem „Parasiten“der Biosphäre geworden. Über solche Analogien ist eine reiche Debatte entbrannt – nachzulese­n etwa im neuen Buch des großen Historiker­s Dipesh Chakrabart­y „Das Klima der Geschichte im planetaris­chen Zeitalter“(444 S., Suhrkamp, 32,90 €). Jedenfalls wurde mit dem Wort „Technosphä­re“eine eindrückli­che Metapher für das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt geschaffen.

Auch Wolfgang Heckl, Direktor des Deutschen Museums in München, greift diesen Begriff auf: In „Die Welt der Technik in 100 Objekten“(686 S., C.H. Beck, 41,10 €) bezeichnet er die 122.000 inventaris­ierten Artefakte seines Hauses als „Spezies der Technosphä­re“. Die in dem Buch vorgestell­ten Blitzlicht­er auf 500 Jahre Technikges­chichte zeigen klar, dass Technik „ein gewichtige­r Teil der Menschheit­sgeschicht­e“ist – und dass sie eine kollektive Leistung ist: Nicht nur die großen Wissenscha­ftler haben der Welt ihren Stempel aufgedrück­t; auch unzählige namenlose Erfinder kreierten Innovation­en, die die Gesellscha­ft, die Wirtschaft und die Umwelt prägen und transformi­eren, sie zum Teil schwer beeinträch­tigen, aber auch zur Lösung vieler Probleme beitragen.

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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