Wo Inflation zum Alltag gehört
Der stete Preisauftrieb ist in Argentinien Teil des Lebens: Nur in 14 der letzten 70 Jahre lag die Inflationsrate niedriger als zehn Prozent. Doch Coronapandemie und Ukraine-Krise haben die Lage verschärft: Die Teuerungen bedrohen nun weite Teile der Bevö
Mayonnaise plus 162,4 Prozent im vergangenen Jahr. Kastenweißbrot 131,9 Prozent teurer. Cornflakes um 127,2 Prozent gestiegen. Diese Artikel führen derzeit die Inflationsstatistik der Marktforschungsagentur „focus market“an, die regelmäßig die Verkaufspreise für Alltagsgüter in Argentinien erhebt. Unter den Top Ten finden sich Einwegrasierer (plus 122,8 Prozent), Marmelade (116,2 Prozent) und Kernseife (115,8 Prozent).
Dass Preise ständig steigen, aber Löhne und Gehälter nicht, erleben viele Europäer und Nordamerikaner derzeit mit Staunen, Bangen und Entsetzen. Argentinier auch. Aber an der Südspitze Amerikas ist es nicht die Wiederkehr der Inflation, die Angst und Schrecken verbreitet. Sondern deren enormes Ausmaß.
In der Pampa war der stete Preisauftrieb längst zum Alltagsunwesen geworden. Nur in 14 der letzten 70 Jahre war die Inflationsrate niedriger als zehn Prozent. Präsident Alberto Ferna´ndez übernahm das Land Ende 2019 bereits mit fast 54 Prozent Teuerung. Dann kamen die Covid-Pandemie und die Ukraine-Krise. Und nun hat sich das Gespenst in ein Ungeheuer verwandelt, das weite Teile der Bevölkerung bedroht – in den Armenvierteln, aber auch in den Barrios der Mittelklasse, die sich seit Jahrzehnten Strategien angeeignet hat, um der ständigen Teuerung zu entkommen. Lange waren viele Löhne immer wieder deutlich angehoben worden. Doch inzwischen laufen die Preise den Angestelltengehältern davon. Und die Heerschar aus Informellen, die kein festes Einkommen haben, bleibt zurück.
Sparen und streichen. Die Mittelklasse spart, streicht und schnallt den Gürtel enger. Die Folge: Fleischhauern, Frisören und Fitnessclubs bleiben die Kunden aus. Musikschulen, Restaurants und Kinos die Studenten und Gäste. Krankenversicherte verzichten auf Einzelzimmer. Hinterbliebene auf Bestattungen, und öffentliche Schulen müssen immer mehr Kinder integrieren, deren Eltern die Privatschulgebühren nicht mehr stemmen können. Erstmals wurden im Vorjahr mehr neue Motorräder zugelassen als Automobile.
In Zahlen: Im Mai stiegen die Preise um 5,1 Prozent. Aber diese Vergleichswerte
beziehen sich nicht auf den Mai 2021. Sondern auf den Vormonat. Allein im März schnellten die Preise um 6,9 Prozent empor. Wirtschaftsexperten, die längst sämtliche TV-Talkshows bevölkern, erwarten, dass die gesamte Teuerung des Jahres 2022 bei 80 Prozent liegen könnte. Und sie schieben meist diesen Satz hinterher: „Wenn nichts Schlimmeres passiert.“
Beispiele für „Schlimmeres“finden sich im Übermaß in Argentiniens Geschichte, die sich liest wie eine ökonomische Horrorchronik. Um 1900 war es das reichste Land der Welt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag sein Wohlstand noch deutlich über jenem Kanadas und Australiens. Doch während Down Under aus ähnlichen Voraussetzungen an die Weltspitze durchstartete, verfing sich Argentinien in einer Abwärtsspirale, die es mittlerweile auf Platz 72 der Wohlstandsstatistik der Weltbank gebracht hat, wenn man den Dollar so berechnet, wie es nur die Regierung tut. Würde der marktfähige Wechselkurs angelegt, läge das Land auf Rang 132. In vier Währungsreformen in der letzten Jahrhunderthälfte wurden der Landeswährung immer wieder Nullen gekappt. Heute, wo die 1000-Peso-Note, der größte Geldschein des Landes, nur wenig mehr als vier Euro wert ist, verlangt die Opposition eine neue Beschneidung um zwei Stellen. Es wären die vierzehnte und die fünfzehnte Null, die der Währung abhanden kämen.
Kein Wunder, dass viele Argentinier jeden Peso sofort ausgeben, den sie in die Hände kriegen. „Wenn bei uns Geld reinkommt, dann gehen wir sofort los und kaufen ein“, erzählt Mariana Sa´nchez, die als Sekretärin eines Internisten
48,4 Prozent:
Das war die durchschnittliche Inflationsrate in Argentinien 2021 im Vergleich zum Vorjahr – Tendenz steigend. Die Coronapandemie und die Ukraine-Krise haben die Lage verschärft.
Ein Drittel
der Argentinier lebt in Armut und ist auf Hilfe angewiesen. Befürchtet wird, dass die Zahl der Armen weiter ansteigen wird.
arbeitet. „Ehe alles noch teurer wird, fahren wir in den Großmarkt und nehmen mit, was haltbar ist: Öl, Mehl, Spülmittel, Klopapier.“Während der Pandemie hat sie gelernt, wie die meisten argentinischen Mittelklassefamilien, auch online strategisch einzukaufen. Denn die Supermarktketten haben jede Woche Sonderangebote. Schnäppchen suchen hat sich längst zu einer Hauptstrategie der Mittelklasse entwickelt. Eine zweite ist der Kreditkartenkauf, denn noch rechnen die Kartenkonzerne erst nach einem Monat ab. Strategie Nummer drei ist der zinsfreie Ratenkauf. Elektrohäuser offerieren Fernseher in zwölf zinsfreien Teilzahlungen. Die Supermarktkette Carrefour gibt derzeit Klimaanlagen für 18 zinsfreie Raten ab. Bei 80 Prozent Inflation ist die Ersparnis erheblich.
»Wenn bei uns Geld reinkommt, dann gehen wir sofort los und kaufen ein.«
Großeinkäufe. Mariana Sa´nchez und ihr Mann Roberto zahlen noch die Raten für die große Gefriertruhe ab, die sie sich im Vorjahr gemeinsam mit seinen Eltern angeschafft haben – und gleich 100 Kilo Steaks und Rippen dazu. Durch den Großeinkauf beim Schlachthaus, online und frei Haus geliefert, konnten die zwei Familien alle Preissteigerungen der letzten Monate umgehen. So hat sich die Anschaffung des Gefrierschrankes längst rentiert – und wird sich noch mehr auszahlen.
2007 ließ Präsident Ne´stor Kirchner das einst unabhängige Statistikamt von Fußballrowdys besetzen, die den Angestellten mit Baseballschlägern beibrachten, wie Statistiken weichgeklopft werden. Acht Jahre lang wurden Datensätze malträtiert und Ökonomen, die eigene Inflationszahlen veröffentlichten, gerichtlich verfolgt. Dieses Unwesen ist inzwischen vorbei, aber Cristina Kirchner ist zurück und demontiert derzeit jenen Mann, den sie im Mai 2019 zum Kandidaten auf das erste Staatsamt gehoben hatte: Der
inzwischen tiefe Riss zwischen Präsident Alberto Ferna´ndez und Vize Cristina Kirchner ist einer der Gründe für die Flucht der Argentinier aus dem Peso.
Ein anderer sind die weiterhin überbordenden Staatsausgaben, schon lang ein chronisches Problem, aber deutlich verschärft, seitdem die Kirchners nicht nur die Zahl der Staatsdiener verdoppelten, sondern auch Millionen älteren Personen Pensionen zugestanden, die niemals in das Rentensystem eingezahlt haben. Weil Zentralstaat, Provinzen und Kommunen bereits 167 verschiede Steuern einheben, weil die Währungsreserven erschöpft sind und internationale Geldgeber keinen Kredit mehr geben, muss sich das Land mit der Notenpresse finanzieren.
Dass so etwas die Preise treibt, kann nach den Pandemiehilfen in aller Welt studiert werden. Aber im „Instituto Patria“, dem Hauptquartier von Frau Kirchner, gibt es eine Denkschule, die das verneint. Kirchner schiebt die Verantwortung für die Inflation den Unternehmern zu, die angeblich ihre Gewinne außer Landes brächten, wie sie vorige Woche ihren Fans kundtat.
Experten erwarten, dass die Teuerung des Jahres 2022 bei 80 Prozent liegen könnte.
Sicher ist, dass die gestiegenen Energiekosten das Land eiskalt erwischten. Obwohl Argentinien die zweitgrößten Schiefergasreserven der Welt besitzt, muss es den Brennstoff einführen, weil es das Land nicht fertigbrachte, Pipelines zu bauen. Argentinien könnte heute sein Gas wohlfeil an alle Welt verkaufen, aber stattdessen muss es importieren, in Dollars, die es nicht hat. Weil viele Großunternehmen nach Russlands Ukraine-Einmarsch einen Gasmangel in den Wintermonaten Juni bis August befürchteten, kauften sie massenweise Diesel ein. Nun fehlt der Treibstoff in 22 von 24 Provinzen. Die Ernte ist noch nicht ganz eingefahren und die Aussaat des Winterweizens ist bedroht. Milliarden Dollar Exporterlöse stehen auf dem Spiel. Zudem gelangt immer weniger Obst und Gemüse aus dem warmen Norden in die frierende Hauptstadt. Und die Preise? Sie steigen weiter.