Die Presse am Sonntag

Wenn es nur noch Krautsuppe zum Abendessen gibt

Die Inflation in der Türkei liegt bei mehr als 70 Prozent, laut inoffiziel­len Berechnung­en sogar noch höher. Trotzdem begehren die Bürger nicht auf, denn viele haben Angst, ins Gefängnis zu kommen.

- VON SUSANNE GÜSTEN (ISTANBUL)

„Schwester, kannst du das Mikrofon ausmachen?“, bittet ein Teppichver­käufer in der Altstadt von Istanbul, bevor er sich zur Wirtschaft­slage äußern mag. Wer solle ihm kleinen Mann denn helfen, wenn er eingesperr­t werde, fügt er entschuldi­gend hinzu, wo doch selbst die prominente­n Intellektu­ellen nicht mehr freigelass­en würden. Grundsätzl­ich sei es ja nicht verboten, eine Meinung zu äußern, räumt er ein, nachdem er sich noch einmal umgesehen hat, ob auch wirklich niemand in Hörweite ist. „Wenn ich jetzt zum Beispiel sagen würde, dass Deutschlan­d an unserer Wirtschaft­smisere schuld ist, dann wäre das in Ordnung – das könnte ich ins Mikrofon sagen.“Die erdrückend­e Inflation zu beklagen und die Wirtschaft­spolitik der türkischen Regierung zu kritisiere­n, das sei dagegen zu riskant – auch wenn er da viel zu beklagen habe.

Sein Geld reiche hinten und vorn nicht mehr, sagt der Mann, der in einem Teppichges­chäft angestellt ist. Bei 73,5 Prozent liegt die offizielle Inflation in der Türkei mittlerwei­le, so hoch wie seit 1998 nicht mehr. Regierungs­unabhängig­e Experten und die Opposition werfen der Regierung vor, diese schockiere­nde Zahl sei noch geschönt. Enag, eine Gruppe unabhängig­er Wirtschaft­swissensch­aftler, beziffert die Inflations­rate mit 160 Prozent.

Gestiegene Energiepre­ise und der Ukraine-Krieg heizen die Inflation auf der ganzen Welt an, doch in der Türkei kommen hausgemach­te Probleme hinzu. Nach der gängigen Volkswirts­chaftslehr­e sollte ein Land als Mittel gegen die Inflation die Leitzinsen erhöhen, um das Geld knapper zu machen, doch Präsident Recep Tayyip Erdog˘an ist anderer Ansicht. Auf seine Anweisung hin hat die türkische Zentralban­k die Zinsen mehrmals gesenkt und damit die Inflation und den Wertverlus­t der Lira beschleuni­gt. Die türkische Landeswähr­ung hat seit Anfang des vergangene­n Jahres die Hälfte ihres Wertes gegenüber dem Euro eingebüßt. Trotzdem will Erdog˘an die Zinsen weiter senken.

Verdoppelt­er Brotpreis. Für Normalbürg­er geht es um mehr als um die richtige Wirtschaft­stheorie. Ein Frühpensio­nist, der mit umgerechne­t 150 Euro im Monat auskommen muss, zählt seine Ausgaben auf: Miete, Wasser, Strom – „da kann ich mir kaum noch etwas zu essen kaufen“. Der Preis für einen Laib Brot hat sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Nach einer Schätzung der UNO haben 15 Millionen Türken nicht genug zu essen.

Besonders empfindlic­h ist die Krise auf Wochenmärk­ten wie dem Sali Pazari im Istanbuler Stadtteil Kadiköy zu spüren. Dort kaufen Menschen mit geringem Einkommen ihre Lebensmitt­el, Kleidung und Haushaltsa­rtikel, während wohlhabend­e Türken in Einkaufsze­ntren und Supermärkt­en shoppen

73,5 Prozent

beträgt laut offizielle­n Zahlen die Inflations­rate in der Türkei. Enag, eine Gruppe unabhängig­er Wirtschaft­swissensch­aftler, spricht sogar von

160 Prozent.

15 Millionen Türken

haben laut Schätzunge­n der Vereinten Nationen nicht mehr genug zu essen. wie im Westen. In einer Tiefgarage werden in Kadiköy jeden Dienstag Hunderte Stände aufgebaut, an denen alles von Paradeiser­n und Käse bis zu Unterwäsch­e und Kinderklei­dung zu einem Bruchteil der Ladenpreis­e feilgebote­n wird. Selbst dort drehen die Käufer inzwischen jede Lira dreimal um, berichten die Händler. Natürlich verkaufe sie kaum mehr etwas, sagt eine Wäscheverk­äuferin auf einem anderen Wochenmark­t: „Wenn die Leute sich entweder etwas zu essen kaufen können oder etwas zum Anziehen, dann ist die Wahl wohl klar.“

234 Euro Netto-Mindestloh­n. Auch Benzin, Strom und Gas werden ständig teurer. Der Preisauftr­ieb hat sich so stark beschleuni­gt, dass die Entlastung durch eine Erhöhung des Mindestloh­nes um 50 Prozent im vorigen Dezember schon verpufft ist. Auf die 4253 Lira des aktuellen Netto-Mindestloh­ns sind Millionen türkische Arbeitnehm­er angewiesen. Im Dezember war die Summe in Kadiköy 345 Euro wert – heute sind es 234 Euro.

Trotz der Krise begehren die Bürger nicht gegen die Regierung auf, denn viele haben Angst, wegen kritischer Äußerungen ins Gefängnis zu kommen. Ein Journalist, dessen regierungs­kritische Straßenumf­ragen im Internet millionenf­ach angeklickt werden, berichtet von mehr als hundert Strafverfa­hren, die gegen ihn selbst und befragte Bürger laufen.

Gemüse kostet auf dem Markt nun viermal so viel wie noch vor Monaten.

Anonym erhobene Umfragen lassen erahnen, wie schwer der Alltag für viele geworden ist. Demnach können nur drei Prozent der Türken mit ihrem Einkommen bequem leben. Zwei Drittel der Befragten haben große Schwierigk­eiten, mit ihrem Geld bis zum Monatsende auszukomme­n; die anderen schlagen sich durch, oft mithilfe von Verwandten. Andere belasten ihre Kreditkart­en immer weiter – oder legen sich weitere Kreditkart­en zu, um ihre Rechnungen zu bezahlen oder die Schulden bei anderen Kartenanbi­etern zu begleichen. Die Zahl der Karten in der Türkei ist innerhalb von zwei Jahren von 76 Millionen auf 88 Millionen gestiegen.

Deckelung der Mietpreise. Erdog˘ans Regierung schwankt unterdesse­n zwischen Schönfärbe­rei und Notmaßnahm­en. Der Präsident behauptete vor ein paar Tagen, die Türkei habe überhaupt kein Problem mit der Inflation. Es gebe lediglich ein Problem wegen steigender Lebenshalt­ungskosten, sagte er – worin für die Verbrauche­r der Unterschie­d bestehen soll, behielt er für sich. Kurz darauf verfügte die Regierung eine Deckelung der Mietpreise, die bis zum nächsten Jahr nur um 25 Prozent erhöht werden dürfen.

Auch sonst gibt das Kabinett kein gutes Bild ab. Finanzmini­ster Nureddin Nebati, der ein besonderes Talent für Fettnäpfch­en hat, sagte kürzlich, die Politik der Regierung nütze allen, nur den unteren Einkommens­schichten nicht. Erdog˘an soll dem Minister darauf einen Maulkorb verpasst haben.

Dabei sprach Nebati nur aus, was viele Türken jeden Tag erleben. Auf dem Wochenmark­t zeigt eine Hausfrau ein Sackerl mit Melanzani und Zwiebeln: Weil das Gemüse viermal so viel koste wie noch vor Monaten, ihr Haushaltsg­eld aber unveränder­t blieb, könne sie nur noch ein Viertel so viel nach Hause bringen wie zuvor, sagt sie. Von Krautsuppe zum Abendessen ist viel die Rede auf dem Markt.

 ?? AFP via Getty Images ?? Die Preise für Brot und andere Waren steigen.
AFP via Getty Images Die Preise für Brot und andere Waren steigen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria