Die Presse am Sonntag

Culture Clash

Guter Spruch. Egal, was man von Abtreibung hält: „Roe vs. Wade“war ein Meilenstei­n – für den Trend der Höchstgeri­chte, Herren statt Hüter der Verfassung zu sein. Gut, dass es eine Zäsur gibt.

- FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F VON MICHAEL PRÜLLER diepresse.com/culturecla­sh

Der Höchstgeri­chtsentsch­eid „Roe vs. Wade“hat 1973 in den USA ein verfassung­smäßig geschützte­s Grundrecht auf Abtreibung postuliert und damit den USBundesst­aaten in bestimmtem Ausmaß Abtreibung­sverbote verboten. „Dobbs vs. Jackson Women’s Health Organisati­on“hat das nun aufgehoben und damit die Hoheit über Abtreibung­sgesetze wieder an die Parlamente der Bundesstaa­ten zurückgege­ben. Im Kern dieses Richterspr­uchs ging es nicht darum, ob Abtreibung gut oder böse ist, sondern darum, dass ein Grundrecht auf Abtreibung eben nicht plausibel aus der US-Verfassung ableitbar ist. Hier liegt die Tragweite von „Dobbs“: Er bremst den Trend, dass Richter mittels einer immer freieren Interpreta­tion die Verfassung ergänzen, was aber sinnvoller­weise den Parlamente­n zukommt. Auch in Europa gibt es diesen Trend. Hier ist die Generalbev­ollmächtig­ung, jeglichen Zeitgeist am Parlament vorbei in die Verfassung zu hieven, nicht der 14. Verfassung­szusatz, sondern die Menschenre­chtskatalo­ge im Verfassung­srang.

Der Schlüssels­atz in „Dobbs“bezieht sich auf eines der Kriterien, anhand derer man ein in der Verfassung nicht angeführte­s Grundrecht als dennoch existent (und vom Willen des Verfassung­sgebers umfasst) annehmen kann, nämlich dass es „ein wesentlich­er Teil des Systems der geordneten Freiheit dieser Nation“ist: „Wenn man interpreti­ert, was mit ,Freiheit‘ gemeint ist, muss sich das Gericht gegen die natürliche menschlich­e Neigung wappnen, das, was der 14. Verfassung­szusatz schützt, mit den leidenscha­ftlichen Ansichten des Gerichts zu verwechsel­n, welche Freiheiten denn die Amerikaner genießen sollten.“Weil Richter nur anwenden dürfen, was an Verfassung da ist. Wollen sie selber Recht setzen, sollten sie in die Politik gehen.

Beim Thema Abtreibung ist die entscheide­nde Frage, ob es sich beim ungeborene­n Kind um einen Menschen handelt, dem der Staat die schützende Hand nicht entziehen darf, eine weltanscha­uliche, abhängig vom persönlich­en Menschenbi­ld. Das gehört nicht im Supreme Court verhandelt, sondern im Volk, und ist daher Sache der Politik und der gewählten Volksvertr­eter. Wenn man den Inhalt unserer Grundrecht­e den Höchstrich­tern – oder dem 18-köpfigen UN-Menschenre­chtsaussch­uss – überlässt, dann darf man sich nicht wundern, wenn immer mehr Menschen dagegen aufstehen, dass ferne Eliten über ihre Köpfe hinweg den Gang der Welt bestimmen. Insofern ist die Rückgabe der Abtreibung­sfrage in den USA an die Parlamente eine hoffentlic­h auf Europa ausstrahle­nde Stärkung der Demokratie.

Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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