Das türkise Dilemma: Der lange Weg der ÖVP in die Krise
Die Misere der ÖVP ist nicht plötzlich und nicht unverschuldet gekommen. Vor allem die strafrechtlichen Ermittlungen haben ein desaströses Bild erzeugt. Weitere neue Anschuldigungen der Justiz zeichnen sich ab. Potenzielle Wähler wenden sich ebenso ab wie
Die ÖVP befindet sich in einer tiefen Rezession, mit nur wenig Hoffnung auf baldige Erholung. Die Partei führt derzeit einen Vielfrontenkampf. Sie kämpft mit sich selbst, gegen die Opposition und ist in zahlreiche Affären juristischer und politischer Natur verstrickt, aus denen sie sich nur schwer befreien kann:
Vor ziemlich genau drei Jahren begann die Misere: Nach der Veröffentlichung des Ibiza-Videos startete die Wirtschaftsund Korruptionsstaatsanwaltschaft umfangreiche Ermittlungen. Als Folge fanden nach einer weiteren anonymen Anzeige rund um das Thema Casinos und Postenbesetzungen mehrere Hausdurchsuchungen bei aktiven und ehemaligen ÖVP-Politikern statt, darunter Ex-Finanzminister Josef Pröll, damals im Aufsichtsrat der Casinos. Ex-Finanzminister Hartwig Löger war damals noch in Amt und Würden, sein Ressort verantwortete die Glücksspielagenden. Darum wurde auch sein Generalsekretär, Thomas Schmid, als Beschuldigter auf- und ihm sein Handy weggenommen, was sich als folgenschwer für die ÖVP herausstellen sollte. Und auch Casinos-Chefin Bettina Glatz-Kremsner, die damals außerdem ÖVP-Vizeparteichefin war, wurde in das Register der Beschuldigten aufgenommen, auf dem sich übrigens auch viele FPÖ-Politiker befinden. Im Kern geht es um die Bestellung von FPÖ-Bezirksrat Peter Sidlo zum Vorstand der teilstaatlichen Casinos Austria, obwohl er dafür nicht qualifiziert gewesen sein soll. Um die nötige Zustimmung von Novomatic für die Postenbesetzung zu bekommen, sollen die Politiker versprochen haben, sich für Online-Gaming-Lizenzen und Casinos-Lizenzen sowie Wiedereinführung des Kleinen Glücksspiels in Wien einzusetzen. Es wird wegen Untreue, Amtsmissbrauchs und im Fall von Glatz-Kremsner wegen Falschaussage ermittelt. Die anfänglich intensiven Ermittlungen sind zuletzt ins Stocken geraten, die Staatsanwaltschaft arbeitete sich an anderen Faktenkreisen und Zufallsfunden ab. Das Gesetz verlangt, dass die Staatsanwaltschaft dem Gericht nach dreijähriger Ermittlungstätigkeit einen Bericht legen muss. Die Dreijahresfrist ist bald abgelaufen – somit könnten in Kürze ein paar Entscheidungen in Dingen Anklage oder Einstellungen fallen.
Mit etwas Verzögerung gesellte sich dann auch Ex-Finanzminister Gernot Blümel in die Reihe der Beschuldigten dazu. Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass er für Novomatic einen Kontakt zu Kanzler Sebastian Kurz eingefädelt hat, damit dieser seine diplomatischen Beziehungen zu Italien spielen lässt, um in einer Steuercausa zu intervenieren. „Die Presse“recherchierte zu diesem Fall – eine Erhärtung des Tatverdachts konnte zumindest journalistisch nicht festgestellt werden.
Aus dem im Sommer 2019 einkassierten Thomas-Schmid-Handy erwuchsen der ÖVP viele Probleme. Eins davon ist die Causa Sigi Wolf. Aus sichergestellten Chats geht hervor, dass der Millionär seine guten politischen Kontakte ins Kabinett nutzte, um für seine Steuerprobleme zu intervenieren. Dazu brauchte er auch die Hilfe einer Finanzbeamtin, die formal zuständig war. Wolf traf sie auf einer Tankstelle. Am Ende des Tages wurde seine Steuer (entgegen dem Willen der Finanzbürokratie) drastisch reduziert, und die Dame bekam den gewünschten Posten als Finanzamt-Chefin. Auch gegen den sich zu diesem Zeitpunkt noch im Amt befindlichen Ex-Finanzminister Hans Jörg Schelling wird ermittelt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Amtsmissbrauch vor.
Aus dem Schmid-Handy ergab sich für die Staatsanwaltschaft noch ein weiterer Ermittlungsstrang: Der dreht sich um für die ÖVP günstige Umfragen ab dem Jahr 2016. Sie sollen aus dem Budget des Finanzministeriums bezahlt und – mit großem Inseratenvolumen begleitet in dem Boulevardblatt „Österreich“– ventiliert worden sein. Kanzler Sebastian Kurz wird als Bestimmungstäter geführt, weil die gefakten Umfragen vor allem seinen Beliebtheitswerten zugutegekommen sein sollen. Seine engsten Berater und sein späterer Pressesprecher werden als Mittäter ebenso beschuldigt wie Beamte des Finanzministeriums. Sie sollen alle zur Misswirtschaft von österreichischem Steuergeld beigetragen haben. Auf der anderen Seite wird gegen zwei Meinungsforscherinnen ermittelt. Eine von ihnen ist Ex-Familienministerin Sophie Karmasin. Sie arbeitete als Meinungsforscherin eng mit Sabine Beinschab zusammen. Karmasin wurde 2013 Ministerin – Beinschab übernahm dann einen Teil ihrer Kunden und Kontakte. Dafür kassierte Karmasin – trotz Nebenerwerbverbots – 20 Prozent der Auftragssumme als Provision. Die WKStA nahm Karmasin nach Aufkommen der Vorwürfe in eine (viel kritisierte) 26-tägige U-Haft. Für Beinschab beantragte die WKStA den Kronzeugenstatus.
In Sachen angeblich unrechtmäßiger Postenvergabe (also Amtsmissbrauch) gibt es mehrere beschuldigte ÖVP-Politiker. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka soll in seiner Zeit als Innenminister Posten innerhalb der Wiener Polizei unrechtmäßig besetzt haben. Dieser Verdacht ergibt sich aus der Auswertung des Handys seines Ex-Kabinettschefs, das ihm von vermeintlich korrupten Verfassungsschutz-Beamten entwendet wurde. Sobotka bestreitet die Vorwürfe.
Markus Wallner
A
DIE CASINOS-AFFÄRE
DAS SIGI-WOLF-PROBLEM
DIE INSERATENAFFÄRE
PERSONALENTSCHEIDUNGEN
Auch der Ex-Justizminister Wolfgang Brandstetter soll sich bei einer Postenbesetzung nicht richtig verhalten haben. Das wirft ihm die Staatsanwaltschaft Innsbruck vor. Ein Spitzenbeamter hat 2015 einen hohen Posten nach einem fragwürdigen Hearing nicht bekommen und wurde danach degradiert. In Innsbruck laufen gegen Brandstetter noch andere Ermittlungen: Es geht um den Verdacht einer verratenen Hausdurchsuchung an den Immobilienmanager Michael Tojner, den Brandstetter nach seinem Ausscheiden aus der Politik anwaltlich beraten hat. Er soll über den Generalsekretär des Justizministeriums Informationen über eine anstehende Hausdurchsuchung bekommen haben. Nach Recherchen der „Presse“erhärtet sich dieser Verdacht aber nicht – im Gegenteil. Die zeitlichen Abfolgen widersprechen der These der Staatsanwaltschaft.
Und dann wäre da noch Klubobmann August Wöginger, der zuletzt seine Immunität verloren hat, damit die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermitteln kann. Die wirft Wöginger Anstiftung zum Amtsmissbrauch bei der Bestellung des Vorstands des Finanzamts Braunau im Jahr 2017 vor. Die Staatsanwaltschaft glaubt – aufgrund von Schmid-Chats –, dass sich Wöginger im Finanzministerium für einen ÖVP-Bürgermeister eingesetzt haben soll. Der ist mittlerweile nicht mehr Finanzamtsvorstand, Wöginger bestreitet die Vorwürfe.
Auch der Kanzler selbst muss sich mit strafrechtlichen Vorwürfen hinsichtlich Personalbesetzungen auseinandersetzen: Wegen seiner Aussagen zur Besetzung der Chefetage der Staatsholding wird wegen Falschaussage ermittelt.
VERDECKTE PARTEISPENDE
Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft beschäftigt sich ausführlich mit dem Thema Parteispenden an die ÖVP, deren Transparenz und Rechtmäßigkeit. Auf ihrer Überprüfungsliste steht auch die ÖVP-Justizsprecherin Michaela Steinacker, die