Selenskij wirft Russland »gezielten Terror« vor
Die Führung der Ukraine beschuldigt das russische Militär, Wohnhäuser massiv mit Raketen zu beschießen.
nellverletzungen von Artillerie und Panzern, mit denen die Russen hier vorwiegend Krieg führen“, erklärt der erst 23 Jahre alte Conner. „Nahkampf gibt es nur selten, deshalb auch nur wenige Schusswunden.“Der britische Notfallsanitäter ist einer von insgesamt sieben „Medics“des Karpatska-Sich-Bataillons. „Bisher hatten wir 16 Tote“, berichtet Conner.
Wie seine kämpfenden Kameraden fühlte auch er sich getroffen, als er die Bilder von toten Zivilisten in den Nachrichten sah. Der junge Brite gab seine Arbeit bei einer Rettungswagenfirma auf und kam gleich zu Beginn der Invasion in die Ukraine. Ihm gefällt es beim Bataillon, er will unbedingt bleiben. „Das Ambiente ist sehr gut, wir sind wie eine Familie“, sagt er. „Die Stimmung ist zwar einmal runtergegangen, als es mehrere Tote gab“, erzählt er. „Aber mittlerweile ist alles wieder im Lot.“Selbst im Krieg, in dem der Tod zum Alltag gehört, ist der Verlust von Kameraden nicht so leicht wegzustecken.
In einem Nebenzimmer liegen vier Mitglieder des Evakuierungsteams auf ihren Matten und Schlafsäcken auf dem Boden. Es sind Amerikaner und Australier, die Verwundete an der Front aus der Schusslinie ins Feldlazarett oder in ein Krankenhaus bringen. Sprechen wollen sie aus Sicherheitsgründen nicht. Ihre Befürchtung: Die Russen könnten sie identifizieren und vielleicht einen Anschlag planen. Nur ein junger Amerikaner, der sich Boris nennt, will sich unterhalten. Er beschwert sich, dass viele der anderen Ausländer nur Abenteuertouristen seien. „Sie wissen nicht, was in diesem brutalen Krieg auf sie zukommt“, sagt der junge Mann mit langen schwarzen Haaren. Seine Motivation liegt wohl eher im religiösen Bereich. Er hat in den USA für eine christliche Organisation gearbeitet und nach Kriegsanfang Spenden für die Ukraine gesammelt. Auf die Internationale Legion ist er nicht gut zu sprechen. Er hatte drei Bekannte, die sich dieser Legion angeschlossen haben. „Zwei sind tot, einer vermisst“, sagt er verärgert. „Da weiß man doch Bescheid.“
„Wir könnten sie sofort zerstören“. Ein Schreibtisch an der Wand, ein Bildschirm, ein Tablet und mehrere Telefone sind das Handwerkszeug von Ruslan. Er ist einer der vielen Ukrainer, die die Basis des Bataillons bilden. Der 35-Jährige ist für die Zielkorrektur der Artillerie zuständig. Auf seinem Tablet zeigt er ein Drohnenvideo von einer russischen Panzerstellung, die sie im Visier haben. „Wir könnten sie sofort zerstören“, erläutert er. „Aber wir haben nicht genug Bomben für die Drohnen. Wir greifen nur an, wenn es wirklich eine große Stellung mit vielen Soldaten ist, und selbstverständlich auch, wenn die Russen eine Offensive starten.“Als Beweis zeigt er noch ein Drohnenvideo, das mehrere russische Militärfahrzeuge unter den Bäumen versteckt zeigt. „Wir könnten sofort zuschlagen, aber wir müssen zuerst genau kalkulieren“, sagt Ruslan etwas betrübt und rückt seine schwarze Brille zurecht. Deshalb gehen die Infos an die Artillerie weiter, die dann die Ziele beschießt. Aber bis das organisiert ist, könnten die russischen Fahrzeuge bereits an einem anderen Standort sein.
Gleich hinter dem Schreibtisch von Ruslan stehen „die Spanier“rauchend und lachend beisammen. Fidel holt sich schon die zweite heiße Instant-Nudelsuppe aus der improvisierten Küche. Pablo witzelt wieder über den Feigling aus Kolumbien. Efrias über den Argentinier, weil der viel zu dick sei. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung, die den Krieg und die Einschläge der russischen Artillerie draußen fast vergessen lässt.
Die Vorwürfe aus Kiew sind massiv: Russlands Truppen sollen bei ihren Raketenangriffen immer stärker zivile Ziele ins Visier nehmen. „Es ist eine neue Taktik Russlands, Wohnviertel zu attackieren und Druck auf westliche politische Eliten auszuüben, um die Ukraine zu zwingen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen“, sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak am Samstag. Und sein Chef, Staatspräsident Wolodymyr Selenskij, war zuvor noch deutlicher geworden: Er sprach von „gezieltem russischen Terror“. Selenskij reagierte damit auf russische Raketenangriffe nahe Odessa. Dabei wurden ein Wohnhaus und ein Erholungsheim getroffen. Der ukrainische Zivilschutz gab bekannt, dass die Attacke mindestens 21 Menschen das Leben kostete.
In den beschossenen Gebäuden seien weder Waffen noch militärische Ausrüstung versteckt gewesen – „wie russische Propagandisten und Beamte immer über solche Angriffe erzählen“, sagte Selenskij. Die Attacke sei keineswegs ein Versehen gewesen. Russland hatte dabei laut ukrainischen Angaben drei Raketen eingesetzt, die eigentlich für die Bekämpfung von Flugzeugträgern konzipiert sind. Britische Verteidigungsexperten hatten zuletzt gemeldet, dass Russlands Militär zielgenaue Raketen und Marschflugkörper ausgehen. Deshalb feuere es immer mehr ungenaue Geschosse ab.
Phosphorbomben und Streumunition. Kiew warf Moskau auch erneut vor, international geächtete Waffen einzusetzen. So hätten russische Kampfflugzeuge Phosphorbomben auf die zuvor von Russland geräumte Schlangeninsel im Schwarzen Meer abgeworfen. Zudem seien zivile Bereiche in Slowjansk mit Streumunition angegriffen worden, berichtete der Bürgermeister der Stadt, Wadym Ljach. Mindestens vier Menschen seien dabei getötet worden.
Zugleich intensivierten die russischen Streitkräfte ihre Attacken entlang der gesamten Frontlinie in der Ostukraine. Im Raum Charkiw versuche die russische Armee, mit Artillerieunterstützung verlorene Positionen zurückzuerobern, meldete der ukrainische Generalstab am Samstag. Zahlreiche Orte würden beschossen, um die ukrainischen Truppen zu binden. In der Region Donezk sei eine Attacke abgewehrt worden.
Nahe der Großstadt Mykolajiw im Süden des Landes waren heftige Detonationen zu hören. Russlands Streitkräfte hätten dort zwei ukrainische Waffenlager zerstört, gab danach der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, bekannt. Bei Charkiw soll ein Waffenlager in einem Traktordepot getroffen worden sein. Die Ukraine habe „hohe Verluste an Menschen und Material“erlitten, behauptete Konaschenkow.
Ein Drohnenvideo zeigt russische Militärfahrzeuge, die unter Bäumen versteckt sind.