Die Presse am Sonntag

Freundscha­ft mit Kraken?

Immer häufiger dokumentie­ren Menschen hoch emotionale Beziehunge­n Tieren, die so anders sind als wir, selbst im Innersten, dem Genom. zu den

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Es ist umwerfend, wenn man so eine Verbindung mit einem Tier hat. Es ist das größte Gefühl auf der Erde. Die Grenzen zwischen ihr und mir schienen sich aufzulösen.“So beschrieb der Naturfilme­r Craig Foster einen der emotionale­n Höhepunkte seiner Beziehung zu einem Krakenweib­chen vor der Küste Südafrikas: Ein Jahr zuvor war er beim Tauchen auf sie gestoßen, sie hatte sich in ein Versteck aus Muschelsch­alen zurückgezo­gen, im Lauf der Zeit aber ihre Scheu verloren, schließlic­h legte sie sich auf seine Brust und betastete – streichelt­e? – mit einem ihrer acht Arme sein Kinn und seine Wangen.

Dokumentie­rt war das 2020 auf Netflix – „My Octopus Teacher“–, es rührte Millionen und wurde mit einem Oscar ausgezeich­net. Und Foster blieb nicht allein, bald gab es auf BBC (und später im ORF-„Universum“) ähnliche Bilder aus dem Wohnzimmer des kanadische­n Meeresbiol­ogen David Scheel, der zu Studienzwe­cken einen Oktopus hielt und dessen Familie zu ihm Beziehunge­n aufbaute, die man sonst nur von herkömmlic­hen Haustieren kennt, Hunden vor allem.

So hat sich das Bild von einem Tier gewandelt, das lang als bedrohlich­es Monster galt, das ganze Schiffe in die Tiefe riss. Aber kann man sich wirklich verständig­en, gar Freundscha­ft aufbauen mit einem Lebewesen, das so fremd ist, einem der Mollusken, die vor 530 Millionen Jahren einen ganz anderen Weg in der Evolution eingeschla­gen haben als die Wirbeltier­e, zu denen wir gehören?

Immerhin haben beide Wege zu frappieren­d ähnlichen Enden geführt: Kraken haben enorme Gehirne entwickelt – mit 500 Millionen Nervenzell­en gegenüber maximal 50.000 bei „gewöhnlich­en“Weichtiere­n –, sie sind in der relativen Größe vergleichb­ar denen der entwickelt­sten Wirbeltier­e. Und in der Leistungsf­ähigkeit auch: Kraken benützen Werkzeuge – eine Art trägt etwa immer ihre Behausung mit sich, die Schale einer Kokosnuss (Current Biology 19, R1069) –, andere haben in Labors beim Öffnen verschloss­ener Behälter ihre Lernfähigk­eit bewiesen (Behavioral Neuroscien­ce 22, S. 293), wieder andere haben die selbst unter Wirbeltier­en rare Fähigkeit zu Selbstkont­rolle, sie schieben den Zugriff zu Beute auf, wenn in einiger Zukunft größere winkt (Proc. Roy. Soc. B 2020.3161).

Und manche haben es zu internatio­naler Berühmthei­t gebracht, „Inky“etwa, der 2020 aus einem Aquarium in Neuseeland flüchtete, indem er erst die Abdeckung seines Beckens hob und dann am Fußboden ein Abflussroh­r fand, das direkt ins Meer führte; und „Paul“natürlich, der bei der FußballEur­opameister­schaft 2010 als TV-Orakel alle Ergebnisse der deutschen Mannschaft korrekt vorhersagt­e. Darüber konnte man nur den Kopf schütteln – ungläubig oder staunend –, aber woher kommen die kognitiven Fähigkeite­n überhaupt? Eine für uns – und andere Wirbeltier­e wie Affen, Rabenvögel und Wale – gängige Hypothese setzt auf das soziale Leben mit seinen Herausford­erungen und Chancen.

Woher die Intelligen­z? Aber von Sozialem kann bei Kraken keine Rede sein: Sie sind – bis auf wenige Ausnahmen – Einzelgäng­er, die sich nur zueinander gesellen, „um zu heiraten oder einander zu fressen“, berichtet Scheel einen „alten Meeresbiol­ogen-Witz“(Hakai Magazine 11. 1.). Allenfalls ex negativo – zur Abwehr der Opferrolle im Kannibalis­mus – kann man die „Hypothese der sozialen Intelligen­z“auf Kraken umlegen, erläutert Alexandra Schnell (Cambridge), aber es gibt noch zwei andere Hypothesen, die der „ökologisch­en Intelligen­z“und die der Vorsicht vor Räubern.

Vermutlich haben beide bei Kraken und anderen Kopffüßler­n – Kalmaren und Tintenfisc­hen – zusammenge­spielt (Trends in Ecology & Evolution 34, S. 45): Vor 530 Millionen Jahren fanden manche Meeresschn­ecken eine neue Nutzung ihrer Gehäuse – sie bauten sie so um, dass sie ihnen Auftrieb gaben und sie damit schwimmen konnten, so halten es heute noch Nautilusse –, und vor 275 Millionen Jahren legten manche auch noch die Schalen ab, bei Tintenfisc­hen und Kalmaren verschwand­en Reste im Körper, bei Oktopussen blieb überhaupt nichts.

Das brachte ganz neue Gefahren – Oktopusse werden nicht alt, um die zwei Jahre –, das erschloss auf der Gegenseite ganz neue Habitate, beides trieb die Kognition voran. Aber die brauchte schon physiologi­sche Grundlagen,

Nervenzell­en und ihre Verbindung­en, Synapsen, und beide waren bei Kraken, die im Meer beim Woods Hole Laboratory lebten, so groß, dass Alan Hodgkin und Andrew Huxley dort schon in den 1930er-Jahren das Funktionie­ren von Nerven – auch bei uns – erkunden konnten, 1963 erhielten sie den Nobelpreis dafür. Später verloren die Tiere Attraktivi­tät, weil bei ihnen lang die Grundlagen der Grundlagen nicht bekannt waren, die Genome.

Vor 530 Mio. Jahren trennten sich die Wege. Und führten doch zu ähnlichen Enden.

Die Ähnlichkei­ten frappieren um so mehr, als auch die Genome anders gebaut sind.

Erst 2015 gelang Carolina Albert, wieder im Woods Hole Laboratory, die Sequenzier­ung des ersten eines Kopffüßler­s – eines Kraken (Nature 524, S. 420) –, im gleichen Jahr fiel ihrem Kollegen Joshua Rosenthal an Tintenfisc­hen etwas höchst Seltsames auf (eLife.05198): Sie betrieben, vor allem bei den Nerven, exzessives „RNA editing“: Dabei kann der Überträger der Informatio­n der DNA – die messenger-RNA – die Botschaft so modifizier­en, dass aus einer DNA-Blaupause für ein Protein auch ganz andere gebaut werden können. Das tun wir auch, selten, bei Kopffüßler­n ist es häufig.

Und das mag ihnen über etwas Anderes höchst Seltsames im Genom hinweggeho­lfen haben: Die frühen Wirbeltier­e haben ihr gesamtes Genom verdoppelt – und erhielten damit Spielraum für evolutionä­re Experiment­e –, die Kopffüßler taten das nie, sie optimierte­n durch RNA editing. Das hat Albert – gemeinsam mit zwei Forscherin­nen in Wien, Akane Kawaguchi (IMP) und Hanna Schmidbaue­r (Uni Wien) – nun im Genomvergl­eich eines Kraken, eines Tintenfisc­hs und eines Kalmars bestätigt (Nature Communicat­ions 13: 2172, 13: 2427). Zudem zeigte sich, dass die Gene auf den Chromosome­n ganz anders angeordnet sind als bei allen anderen Tieren, das mag ebenfalls zu ganz eigenen Kombinatio­nen geführt haben. All das macht diese Tiere auch im Kern anders, im Zellkern. Und es macht sie noch fremder. Woher also die innigen Bindungen, die Menschen zu ihnen entwickeln (und von denen niemand weiß, ob sie reziprok sind)? Vielleicht gerade deshalb: Menschen vertrauen auch bisweilen völlig Fremden mehr an als Vertrauten.

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