Eine Familie in der Fußballwelt: Wieder vereinte Pionierinnen
Kateryna Monsul und Maryna Striletska flüchteten vor dem Krieg aus der Ukraine. Nun führt die EM Schiedsrichterin und Assistentin zusammen.
Wurde das EM-Abenteuer 2017 größtenteils von Thalhammer und Teammanagerin Isabel Hochstöger organisiert, gab es diesmal über ein Jahr lang „Jours fixes“mit allen Abteilungen (Marketing bis Sportdirektor), um die Vorbereitungen auf Schiene zu bringen. 30 Personen begleiten die ÖFBFrauen nach England: Ob zweiter Assistent, Athletikcoach, Zeugwart oder Koch, das Aufgebot wurde personell jenem der Männer angeglichen. Einziger Unterschied: Teilzeitanstellung. Abgesehen von der Aufstockung hat Fuhrmann aktuell keinen Wunsch offen.
„Equal Pay“ist für die Teamchefin ein Fernziel. Aufgrund unterschiedlicher Erlös- und Marketingstrukturen ist ein Vergleich zwischen den Verbänden schwierig, der ÖFB hat trotz Halbfinale als Gewinnschwelle laut eigener Aussage „wesentlich höhere“Prämien als 2017 ausgelobt.
Fünfmal so viel wie 2017 hat Europas Verband (Uefa) in diese EM investiert, das Preisgeld auf 16 Millionen Euro verdoppelt. Der Zuschauerrekord von 41.301 (Finale 2013) wird schon beim Eröffnungsspiel überboten, mit mehr als 450.000 verkauften Tickets (55 Prozent) ist eine neue Bestmarke sicher (2017: 274.041). Über 250 Millionen TV-Zuseher in 195 Ländern werden erwartet. „Die Richtung stimmt absolut“, zeigt sich Fuhrmann erfreut.
„Mehr Klarheit“hätte sich die Teamchefin in manchen Bereichen gewünscht, denn nicht alles passt zum EM-Hochglanz: die Quartierauswahl (der ÖFB organisierte seines selbst), lange Kader-Unsicherheit (23 oder 25), VAR-Einführung ohne Bewerbstests oder fehlende bzw. minderwertige TVBilder in einzelnen Qualifikationsspielen. Bis zur EM 2025 (Vergabe im Dezember) kann die Uefa nachschärfen.
Die Bedeutung des Fußballs als Zerstreuung und Ablenkung in schwierigen Zeiten haben Kateryna Monsul und Maryna Striletska unfreiwillig neu kennenlernen müssen. Seit Russland in ihre ukrainische Heimat einmarschiert ist, sind die Ängste um Familie, Freunde und Land anhaltend groß, doch der frühere Lebensmittelpunkt bietet der Schiedsrichterin und ihrer Assistentin nun zumindest kurzzeitig mentale Auszeiten. „Wir sind ein kleines Team, eine kleine Familie, wie Schwestern“, sagt Striletska. „Seit Kriegsbeginn sehe ich nun die Schiedsrichterwelt als große Familie. Ich fühle mich zugehörig, und die Leute wollen helfen.“
Mit eigenen Augen sah Striletska, wie die russischen Panzer durch ihren Heimatort, 30 km entfernt von der russischen Grenze, rollten, bestürzt verfolgte sie fortan die Nachrichten. Mitte März entschloss sich die 38-Jährige schließlich zur Flucht. Mit der elfjährigen Tochter, einer Freundin und deren zwei Kindern fuhr sie im Auto in die Schweiz zu ihrer Schwester. Vier Tage waren sie unterwegs, versteckten sich, schliefen auf dem Boden einer Kirche, und warteten 17 Stunden an der Grenze. Ihr Mann Sergij blieb zurück. „Er verteidigt unser Zuhause, denn für uns ist es schon das zweite Mal.“2014 verließ Striletksa nach der russischen Intervention Luhansk, ihre Eltern sah sie vor deren Tod nicht mehr wieder.
In der Eliteklasse unter Männern. Vom persönlichen Schrecken ließ sich Striletska beruflich nicht aus der Bahn werfen. Gemeinsam mit Monsul (und der zweiten Assistentin Switlana Gruschko) legte die ehemals begeisterte, aber mäßig begabte Fußballerin einen steilen Aufstieg an der Linie hin. Nach dem WM-Finale der Frauen 2015 durfte das Trio in der höchsten ukrainischen Männer-Liga tätig werden und rückte mit starken Leistungen ins Blickfeld der Uefa. Neben der Französin Ste´phanie Frappart leistet Monsul und mit ihr Striletska inzwischen Pionierarbeit. Im November 2020 leiteten sie als erste weibliche Offizielle ein Männer-Länderspiel, auch Österreichs Auswahl oder Rapid machten im Vorjahr Bekanntschaft mit den Ukrainerinnen. In England kommt es nun potenziell für die ÖFB-Frauen zum Wiedersehen mit Monsul und Striletska, die beiden Nominierten waren 2017 bei der Halbfinalniederlage gegen Dänemark und jüngst bei der WM-Qualifikation in England im Einsatz.
Denn in der Schweiz überwältigten Striletska zwischen der Erleichterung über die Sicherheit für sich und ihre Tochter und der Trauer um den Verlust des bisherigen Lebens die Gefühle. „Drei Wochen lang weinte ich jeden Tag. Auf die Welt des Fußballs vergaß ich völlig, dachte nur noch an den Krieg. Darum wollte ich wieder anfangen“, erinnert sie sich. Um die EMChance zu wahren, bekam die Assistentin über Vermittlung des ukrainischen Verbandes Einsätze in der dritten Schweizer Männer-Liga, Schiedsrichterin Monsul aus Charkiw fand in Italien einen sicheren Zufluchtsort und pfiff dort in der höchsten Frauen-Liga.
»Seit Kriegsbeginn sehe ich nun die Schiedsrichterwelt als große Familie.«
Die Aussicht auf die ersten gemeinsamen Einsätze seit November bezeichnet Striletska als „unglaubliches Gefühl“. Obgleich sie den Krieg kurzzeitig ausblenden kann, hat er sie nachhaltig geprägt. „Nach alledem habe ich realisiert, dass es nicht viel braucht im Leben“, so die 38-Jährige. „Wir wollen immer höher hinaus, immer härter arbeiten, aber in Wahrheit geht es darum, den Moment zu genießen.“