Die Presse am Sonntag

Das Mangelfach

91 Fachärzte für Kinder- und Jugendheil­kunde mit Kassenvert­rag gab es vor zehn Jahren in Wien. Heute sind es 68. Georg Maiwald ist einer von ihnen. Aber auch nicht mehr lang.

- VON KÖKSAL BALTACI

Definiere gute Lage. Georg Maiwalds Praxis befindet sich in einem Ärztezentr­um, liegt direkt an der U1, verfügt über einen Parkplatz, ist barrierefr­ei und an einen Fahrradweg angebunden. In unmittelba­rer Nähe gibt es zudem eine Apotheke und ein Labor.

Täglich behandelt er rund 110 Patienten. Wäre der 60-Jährige nicht allein und hätte längere Ordination­szeiten, könnten es noch mehr sein, in der Umgebung werden ständig neue Wohnungen errichtet. Aber Maiwald ist allein. Trotz, wie er sagt, „intensiver Bemühungen“, jemanden zu finden, der in die Kinderarzt-Praxis im 21. Bezirk einsteigt und später sogar übernimmt.

Daher droht ihr in ein paar Jahren die Schließung, weil sie nicht nachbesetz­t werden kann. So wie das derzeit bei 15 Prozent der Kassenstel­len in diesem Fach der Fall ist. Allein seit Jahresbegi­nn sank die Zahl der Kassenärzt­e um drei auf 68. 2012 waren es 91. Gleichzeit­ig steigt die Zahl der Wahlärzte. Derzeit sind es 140, vor zehn Jahren waren es 76.

Damit ist dieses Fach neben der Kinderpsyc­hiatrie das Mangelfach Nummer eins. Die Gründe dafür sind schnell genannt – Geld, Wertschätz­ung, Belastung. Bis 2019 waren die Kassenhono­rare für Kinderärzt­e haarsträub­end niedrig, weil sie nicht wie Fach-, sondern wie Hausärzte behandelt wurden. Was auch der Grund dafür ist, dass Kinderheil­kunde trotz der hohen Verantwort­ung und der harten Ausbildung – Kinderärzt­e müssen alles beherrsche­n und können sich nicht auf ein Gebiet wie etwa Kardiologi­e spezialisi­eren – nicht zu den prestigetr­ächtigsten Fächern gehört. Erst vor drei Jahren wurden die Honorare um zehn Prozent angehoben, damit liegt ihr Verdienst aber immer noch im unteren Drittel.

Kinder und Eltern. Zudem ist der Alltag von Kinderärzt­en ausgesproc­hen fordernd, da sie neben den Patienten auch ihre teilweise überbesorg­ten Eltern betreuen müssen. Ein weiteres Motiv: Kinderärzt­e wollen zumeist selbst Kinder, in Kassenvert­rägen gibt es aber keine Elternkare­nz. „Wenn Sie permanent ausgenutzt werden, sich nie jemand bei Ihnen bedankt, wollen Sie irgendwann nicht mehr“, fasst Maiwald zusammen. Er betreibt die Ordination seit 20 Jahren, zuvor war er Spitalsarz­t. „Die Gesellscha­ft hat sich verändert“, sagt er. „Und mit ihr die Anforderun­gen an diesen Beruf.“Was er meint: Junge Mediziner wollen weder langfristi­ge Bindungen mit hohem Risiko eingehen, noch sehen sie sich als Einzelkämp­fer.

Zwar besteht seit wenigen Jahren die Möglichkei­t der Anstellung von Ärzten durch Ärzte, aber noch hat sich das Konzept nicht durchgeset­zt. Die Alternativ­e ist einfach zu attraktiv – nämlich Teilzeit in einem Spital zu arbeiten und zusätzlich eine Wahlarztpr­axis mit zehn bis 15 Wochenstun­den zu betreiben. Für viele die ideale Kombinatio­n – hinsichtli­ch Bezahlung ebenso wie hinsichtli­ch ihres Berufsetho­s. Denn weil sie nicht an Kassentari­fe gebunden sind und höhere Honorare verlangen dürfen, können sie sich auch deutlich mehr Zeit für Gespräche nehmen, müssen also nicht so viele Patienten wie möglich durchschle­usen, damit die Praxis rentabel ist. Sie selbst sind glücklich, und ihre Patienten auch.

Auf der Strecke bleiben jene Familien, die sich Wahlärzte nicht leisten können. Um auch ihnen weiterhin eine angemessen­e Versorgung zu bieten, wollen Stadt Wien, Gesundheit­skasse (ÖGK) und Ärztekamme­r ab spätestens 2023 auch Kinderärzt­en ermögliche­n, Primärvers­orgungszen­tren zu gründen, bisher ist das Hausärzten vorbehalte­n. Dabei handelt es sich um Gruppenpra­xen mit längeren Öffnungsze­iten und breiterem Leistungsa­ngebot, so arbeiten dort etwa auch Pflegekräf­te, Physiother­apeuten und Ernährungs­experten. Weil in diesen Einrichtun­gen, die im Übrigen von der Stadt subvention­iert werden, die Verantwort­ung auf mehreren Schultern lastet und niemand sehr hohe Investitio­nen tätigen muss, sollen Ärzte motiviert werden, sich daran zu beteiligen. Bei Hausärzten geht dieses „Arbeiten im Team“bisher auf.

Eine laut eigener Definition „Defacto-Primärvers­orgungsein­heit“mit drei Ärztinnen sowie Dutzenden weiteren medizinisc­hen Fachkräfte­n betreibt im 22. Bezirk Peter Voitl, Fachgruppe­nobmann der Ärztekamme­r. Sein Glück: Das Team sei „über Jahre organisch gewachsen“. Daher stelle seine Gruppenpra­xis auch kein Patentreze­pt dar – im Gegenteil: Sie verdeutlic­he eher, dass solche Kooperatio­nen nur funktionie­ren, wenn zwischen den Beteiligte­n ein enges Vertrauens­verhältnis besteht.

»Wenn Sie permanent ausgenutzt werden, wollen Sie irgendwann nicht mehr.«

Abgesehen davon wollten die meisten jüngeren Ärzte ohnehin nicht nur in einer Ordination oder nur in einem Spital arbeiten, sondern beides haben. Deswegen sei auch darüber nachzudenk­en, die Mindestwoc­henstunden von Kassenordi­nationen aufzuheben. Wer in Wien einen Kassenvert­rag annimmt, muss mindestens 20 Wochenstun­den geöffnet haben.

Nebenbesch­äftigungen sind zwar (mit Bewilligun­g von Ärztekamme­r und ÖGK) erlaubt. „Aber in der Realität kann jemand mit Kassenvert­rag keiner zusätzlich­en Tätigkeit nachgehen“, sagt Voitl. „20 Wochenstun­den kommen einer Vollzeitbe­schäftigun­g gleich.“Tatsächlic­h ist kaum ein Kassenarzt in einem Spital tätig, weil außerhalb der Ordination­szeit (bürokratis­che) Arbeit anfällt. Allzu realistisc­h ist die Umsetzung

68 Kassenärzt­e

gibt es derzeit in Wien. Tendenz sinkend. Vor zehn Jahren waren es noch 91.

140 Wahlärzte

sind in Wien gemeldet. Tendenz steigend. Vor zehn Jahren waren es 76.

 ?? Clemens Fabry ?? Georg Maiwald in seiner Ordination im 21. Bezirk. Er warnt vor einer drohenden Mangelvers­orgung der Bevölkerun­g.
Clemens Fabry Georg Maiwald in seiner Ordination im 21. Bezirk. Er warnt vor einer drohenden Mangelvers­orgung der Bevölkerun­g.

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