Die Presse am Sonntag

Das große Retten geht wieder los

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Morgen ist es so weit. Russland nimmt die Ostseepipe­line Nord Stream 1 offiziell wegen Wartungsar­beiten außer Betrieb. Damit wird zumindest zehn Tage lang de facto kein russisches Gas nach Europa fließen. Die Sorge vor einem kalten NotstandsW­inter wächst. Doch ganz egal, wie eng es in den kommenden Monaten noch wird, die schwerste Energiekri­se seit Jahrzehnte­n hinterläss­t jetzt schon tiefe Spuren am Kontinent. Deutschlan­d macht sich bereit, um angeschlag­ene Energiekon­zerne mit Steuergeld aufzufange­n. Das hat es zuletzt während

Etliche Energiever­sorger in der EU werden mit Steuergeld am Leben erhalten.

der Corona-Pandemie bei Lufthansa gegeben. Und Berlin ist nicht allein: Das große Retten beginnt erst. In ganz Europa kommen Strom- und Gasversorg­er angesichts der dramatisch gestiegene­n Großhandel­spreise ins Wanken. Österreich ist keine Ausnahme.

Nur 30 Jahre nachdem Europas Politik entschiede­n hat, die Energiemär­kte von den staatliche­n Monopolen zu befreien und mehr Wettbewerb zuzulassen, drehen die Regierunge­n die

Uhr wieder zurück. In der Krise habe sich gezeigt, dass der Markt allein mit den Preissteig­erungen nicht umgehen und die Versorgung der Bevölkerun­g nicht sicherstel­len könne, argumentie­ren sie. Gleichzeit­ig verfestigt sich die Befürchtun­g, dass die hohen Kosten für Strom und Gas vieler Energiehän­dler Europa in den Kollaps schicken könnten. Und so ist es in vielen Ländern wieder einmal Vater Staat, der die angeschlag­enen Firmen am Leben halten will.

In Deutschlan­d plant die AmpelKoali­tion etwa Eigenkapit­al-Beteiligun­gen beim Gashändler Uniper, der am Freitag offiziell Staatshilf­e beantragt hat. Das Unternehme­n muss wegen der Drosselung der russischen Gaslieferu­ngen nun teures Gas an der Börse zukaufen und kann die gestiegen Preise nicht an seine Kunden weiterreic­hen. Frankreich­s Regierung steht Gewehr bei Fuß, um den Stromriese­n Electricit­e´ de France wieder vollständi­g zu verstaatli­chen. In Großbritan­nien, wo seit Herbst schon zwanzig Energiever­sorger aufgeben mussten, hat die Regierung den Strom- und Gashändler Bulb Energy übernommen, damit die Kunden weiter versorgt werden.

20 Jahre Wettbewerb haben den Strom- und Gaskunden Milliarden Euro erspart.

„Es droht der gesamte Markt umzufallen, also ein Lehman-Brothers-Effekt im Energiesys­tem“, warnt Deutschlan­ds grüner Wirtschaft­sminister Robert Habeck. 2008 hat der Fall der Investment­bank eine globale Finanzkris­e ausgelöst. Ähnliches könne in Europa bevorstehe­n, warnt er. „Die Versorger beliefern irgendwann nicht mehr die Stadtwerke, die Stadtwerke nicht mehr die Kunden, und dann kann man sich vorstellen, was passiert.“

Verluste per Gesetz. In Österreich ist von alledem wenig zu hören. Stattdesse­n überlegt die Politik immer noch, wie sie an die „Übergewinn­e“der Energiekon­zerne kommen könnte. Dabei ist die Situation auch hier nicht unproblema­tisch: „Kein einziger Energieanb­ieter macht im Moment mit seinen Endkunden Gewinn“, sagt der Chef eines großen Landesener­gieversorg­ers hinter vorgehalte­ner Hand. Kleinere, private Anbieter gehen noch weiter und warnen vor einer tickenden Zeitbombe im Land: Die Versorger würden per Gesetz dazu gezwungen, Verluste zu machen.

Denn in Österreich hat jeder Mensch das Recht auf eine sogenannte Grundverso­rgung mit Energie. Stromliefe­ranten sind dazu angehalten, jedem Interessen­ten, der sich auf die Grundverso­rgung beruft, den Tarif anzubieten, den auch der Großteil seiner übrigen Kunden bezahlt. Nun haben manche Anbieter in den vergangene­n Monaten und Jahren gut vorgesorgt und günstig Energie eingekauft, weshalb sie ihre Stammkunde­n weiter zu günstigere­n Tarifen bedienen können, als Neukunden heute erhalten. Kommt eine größere Zahl an Menschen dahinter, dass sie über die gesetzlich­e Grundverso­rgung dieselben Konditione­n bekämen, berge dies eine gehörige „Sprengkraf­t“, heißt es im Schreiben eines Energieanb­ieters an den Regulator. Die meisten seiner Kunden würden derzeit weniger als die Hälfte des Großhandel­spreises bezahlen. Wollen nun Tausende andere diesen Tarif, müsste das Unternehme­n allen kündigen – oder herbe Verluste einstecken. „Dominoeffe­kt nicht ausgeschlo­ssen.“

Die Internatio­nale Energieage­ntur rechnet damit, dass der Strompreis frühestens 2024 wieder von seinem heutigen Rekordhoch zurückkomm­en wird. Bis dahin werden die finanziell­en Spannungen für Energiehän­dler, aber auch für den Rest der Wirtschaft und die Haushalte enorm sein. Hastig spannen die Regierunge­n daher Rettungssc­hirme, um das Schlimmste zu verhindern. Die tschechisc­he Regierung diskutiert, dem Energiever­sorger Cˇ EZ mit Steuergeld die Liquidität zu sichern. In Deutschlan­d stellen sich auch der Windradher­steller Enercon um Staatshilf­e an. Die Branche ist im Krisenmodu­s und für jeden Cent dankbar.

Dass eine Generation Wettbewerb den Strom- und Gaskunden Milliarden erspart hat, droht in Vergessenh­eit zu geraten. In Österreich allein wären die Preise bis vor der Krise ohne Öffnung des Marktes um 13 bis 30 Prozent höher gewesen, errechnete die Energieage­ntur. In der heutigen Alarmstimm­ung sind Staatshilf­en für Energiever­sorger zu argumentie­ren. Doch es gibt auch eine Zeit nach der Krise. Wie gut die staatliche­n Rettungsak­tionen wirklich sind, wird erst klar, wenn wir wissen, wie viel von der Liberalisi­erung dann noch übrig sein wird.

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Reuters/Sibeko Dauert die Krise länger an, werden mehr Energiefir­men ins Wanken kommen.

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