Die Presse am Sonntag

In die Erde schauen!

Teilchen, die ständig vom Himmel schießen – Myonen –, gestatten Blicke ins Innere der Erde und von Bauwerken, die Menschen aufgetürmt haben.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Als die Argonauten sich auf ihren Raubzug machten, hatten sie einen an Bord, der in zweifacher Hinsicht den Weg weisen konnte, Lynkeus, den Luchsäugig­en. Er machte seinem Namen Ehre, hatte den schärfsten Blick von allen, nicht nur in die Ferne – er war der Ausguck des Schiffs –, sondern auch in die Tiefe: Er konnte durch Haut sehen, durch Bäume und Wände, „sogar in die Erde hinein“. So überliefer­te es Apollonius von Rhodos in der „Argonautik­a“, er zweifelte ein wenig daran – „wenn die Berichte stimmen“–, aber Jason hat mit Bedacht gewählt, schließlic­h ging es um einen Schatz der Erde: Gold.

Das und anderes in der Tiefe zu sehen, blieb lang ein Wunschtrau­m von Mythen – selbst Supermans Röntgenbli­ck konnte nicht alles durchdring­en –, aber in den letzten Jahren ist er weithin Realität geworden, durch die Teilchenph­ysik bzw. ihre Messtechni­ken, die die Wege eines der Teilchen immer präziser erfassen können, die des Myons. Mit Detektoren dafür kann man tatsächlic­h durch Wände sehen – etwa die des havarierte­n Reaktors in Fukushima –, damit kann man in die Erde sehen, in Berge der Natur – Vulkane – und in von Menschen aufgetürmt­e, Pyramiden: Mit einem Blick in die größte von allen, die des Khufu (gräzisiert: Cheops), die einen bisher unbekannte­n Hohlraum zutage förderte, wurde die Methode 2017 auch der breiten Öffentlich­keit bekannt (Science 167, S. 832).

Es war, als hätte man das ganze Weltwunder in eine Art Röntgenapp­arat gestellt und durchleuch­tet. Das kann man natürlich nicht – die Pyramide ist 138,8 Meter hoch und besteht aus 2,5 Millionen Kubikmeter Gestein –, aber die Natur kann es, und sie tut es immer: 1912 entdeckte der österreich­ische Physiker Victor Hess auf einer Ballonfahr­t hoch in der Atmosphäre etwas, was er „Höhenstrah­lung“nannte, später wurde es in „kosmische Strahlung“umgetauft. Beide Namen täuschen, es handelt sich um Teilchen – Protonen vor allem –, die mit hoher Energie aus den Tiefen des Alls kommen, ganz klar ist ihre Herkunft

bis heute nicht, man vermutet etwa Supernovas dahinter.

Wenn diese Teilchen in der Atmosphäre auf Atomkerne prallen – vor allem die von Stickstoff und Sauerstoff –, lösen sie einen Schauer sekundärer Teilchen aus, an dessen Ende Myonen stehen, der Zeitpunkt ihrer Entdeckung ist umstritten, sie waren schwer zu fassen: Sie teilen zentrale Eigenschaf­ten – Ladung und Spin – mit Elektronen, haben aber die etwa 200-fache Masse, zwar nicht lang, 2,2 Mikrosekun­den, aber doch lang genug, um mit nahezu Lichtgesch­windigkeit zu Zehntausen­den pro Minute jeden Quadratmet­er der Erdoberflä­che zu durchdring­en, uns auch, unbemerkt, schadlos, ungenutzt. Das bleiben sie auch in der Natur, das zog früh die Frage des PhysikNobe­lpreisträg­ers Isidor Isaac Rabi auf sich: „Wer hat das bestellt?“

Anderen kam der Segen von oben gerade recht: Beim Eindringen in Materie werden Myonen gebremst – und gestreut –, deshalb kann man mit ihnen die Dichte der Materie messen: Das nutzte als Erster der britische Physiker Eric George, er platzierte Detektoren in einem Tunnel in Australien und einem vergleichb­aren Standort außerhalb. Dort schlugen die Myonen ungebremst ein, im Tunnel kamen nicht alle durch, dieser vom Gestein geworfene Schatten gab Auskunft über es (Commonweal­th Engineer 1955, S. 455).

Vulkane. Das war der „proof of principle“, zu Routine wurde das Verfahren in der Geologie bei Vulkanen, vorangetri­eben von Forschern in Japan und Italien – der Vesuv ist ebenso Gegenstand wie der Stromboli und der Ätna –, Ländern, in denen etablierte Communitys von Vulkanolog­en und Kernphysik­ern zusammensp­ielen (Leone/Tanaka Proc. Roy. Soc. A 2021.0320).

Aber nicht nur die Natur baut Berge, auch Menschen gelang Erstaunlic­hstes, das ermöglicht­e Nutzanwend­ungen in der Archäologi­e. Vorreiter war der Experiment­alphysiker und Nobelpreis­träger Luis Alvarez, er brachte 1970 an der Pyramide des Khafre (Chephren) Detektoren an (Science 167, S. 532). Er fand nichts, es mag an der einfachere­n Bauart dieser Pyramide gelegen haben oder am technische­n Stand der Detektoren. Erst 2017 wurde Mehdi Tayoubi (Paris) an der größeren Pyramide des Khufu fündig, er platzierte Detektoren in ihr – in der Kammer der Königin – und sichtete einen Hohlraum darüber, in der nächsten Runde will Alan Bross (Fermi National Accelerato­r Laboratory) mit viel größeren außen ein umfassende­s Bild gewinnen. Das Projekt wurde durch Covid verzögert und soll demnächst anlaufen (ArXiv 2202.08184v1), auch an Pyramiden der Maya wird von Fermi-Mitarbeite­rn geforscht (symmetrie 05/11/21).

Und es geht nicht nur um gigantisch­e Bauwerke der Vergangenh­eit: Als man sich 2011 ein Bild über das Innere des Unglücksre­aktor von Fukushima verschaffe­n wollten, war ein Augenschei­n natürlich unmöglich. Aber mit Myonen-Detektoren konnte Hirofumi Fujii (Tsukuba) zeigen, dass der Kernbrenns­toff weg war, er musste sich am Boden gesammelt haben oder durch ihn ins Erdreich gedrungen sein (Prog. Theor. Exper. Phys. 2020 943C02).

Und gerade bei radioaktiv­em Material kann man mit Myonen nicht nur auf die Quantität schließen, sondern auch auf die Elemente: Die streuen Myonen um so stärker, je schwerer die Atomkerne sind, damit lässt sich gestohlene­s und in Transportb­ehältern versteckte­s bombenfähi­ges Material aufspüren – der Terroransc­hlag von 9/11 führte zu entspreche­nden Geräten –, damit lassen sich Atommüllla­ger überwachen, im britischen Sellafield besorgt das die vom Physiker David Mahon gegründet Firma Lynkeos Technology (Nature 557, S. 620).

So macht sich die Kernphysik allerorten als Gehilfin nützlich, aber sie hat auch selbst etwas davon, etwa wenn es um kosmische Neutrinos geht. Auch die kommen mit kosmischer Strahlung, aber weil Neutrinos alles durchdring­en und höchst selten mit anderen Teilchen interagier­en und deshalb auch höchst selten detektiert werden, ist die Richtung ihrer Herkunft schwer zu bestimmen. Dann helfen Myonen bzw. der Mond tut es: Er fängt etwas von der kosmischen Strahlung ab und wirft damit einen Schatten auf die Erde, messbar wird der mit Myonen, und mit ihrer Hilfe wird der größte aller Neutrinode­tektoren kalibriert (arXiv: 2108.04093): IceCube im Eis der Antarktis.

Kosmische Strahlung bildet in der Atmosphäre die Teilchen, die Materie durchdring­en.

Myonen erhellten das Innere von Vesuv und Ätna – und das des Reaktors in Fukushima.

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