Die Presse am Sonntag

Die große Freiheit da draußen

Die amerikanis­che Autorin Andrea Barrett erzählt in »Die Luft zum Atmen« von den Hoffnungen und Träumen der Patienten in einer Tuberkulos­eklinik. Elegant und berührend.

- VON MIRJAM MARITS

Drüben, auf der anderen Seite des Atlantiks, wütet bereits der Erste Weltkrieg. Von dem Grauen in Europa bekommen die Patienten hier im Sanatorium am Tamarack Lake nur wenig mit.

Neuigkeite­n von außen, oder gar Besucher, gibt es nur selten. Ruhe ist hier angesagt, so viel Ruhe, dass sie anfangs schwer erträglich ist für Leo Marburg, als er wegen seiner Tuberkulos­eErkrankun­g in die staatliche Klinik eingeliefe­rt wird. Er wird wie alle anderen hier Wochen, Monate bleiben müssen, damit sich sein Körper von den Folgen der Schwindsuc­ht erholt. Tag für Tag liegt er herum, zuerst ganz allein. Später ist ein wenig Reden am Balkon erlaubt, nach und nach mehr Interaktio­n mit den anderen.

Mit Leos Eintreffen im Sanatorium in den Bergen im Osten der USA beginnt der Roman „Die Luft zum Atmen“der mehrfach prämierten US-Autorin Andrea Barrett. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht einer nicht näher definierte­n Gruppe an Patienten. Eine „Wir“-Erzählerst­imme also. Das ist anfangs durchaus ungewöhnli­ch, tatsächlic­h gewöhnt man sich aber beim Lesen schnell daran. Zumal es ein durchaus passendes Stilmittel ist (wie passend, merkt man spätestens am Ende) in dieser ungewöhnli­chen Geschichte, in der es auch viel um die Gemeinscha­ft geht. Ums Dazugehöre­n. Oder eben nicht.

Enttäuschu­ngen. Eine Klinik in den Bergen, Anfang des 20. Jahrhunder­ts, Krankheit: Die Analogie zu Thomas Manns „Zauberberg“mag sich hier aufdrängen, auch weil es in Barretts Roman ebenfalls häufig um Wissenscha­ft geht, etwa um die Anfänge der Radiologie, mit der die Ärztin Irene und die wissbegier­ige Krankenpfl­egerin Eudora im Labor des Sanatorium­s experiment­ieren. Allzu akribisch braucht man aber nicht nach Parallelen zu Thomas Mann suchen – Barrett hat eine ganz eigene, ungewöhnli­che Geschichte geschaffen, die von Enttäuschu­ngen und Hoffnungen erzählt. Wie eben von Leo, der in Odessa Chemie studiert hat, mit großen Erwartunge­n in die USA emigriert ist, wo er nur einen Job in einer Zuckerfabr­ik fand. Und sich Tuberkulos­e holte.

Einer von vielen unerfüllte­n Träumen im Sanatorium. Andere hoffen noch. Naomi etwa. Die Jugendlich­e träumt davon, wegzukomme­n, in die große Stadt oder sonst wohin, nur raus aus dem kleinen Ort am Tamarack Lake, wo sie mit ihrer Mutter eine der schickeren Privatpens­ionen führt, in der die betuchtere­n Tuberkulos­e-Patienten auf Genesung hoffen. Denn oben im Sanatorium, da werden nur die behandelt, die selbst keine Mittel haben. Einer dieser reichen Gäste ist Miles, der eines Tages beschließt, im Sanatorium wöchentlic­he Treffen zu organisier­en, bei denen sich die Patienten

gegenseiti­g ihr Wissen aus ihrem Leben vor der Erkrankung vortragen. Gerade als hier eine echte Gemeinscha­ft zu entstehen scheint, droht sie – mehr sei nicht verraten – durch einige Zwischenfä­lle wieder zu zerfallen. Und schließlic­h holt das Sanatorium indirekt auch der Erste Weltkrieg ein.

Barrett erzählt ruhig und elegant, ganz ohne Pathos und Kitsch von Hoffnungen und der Liebe, beide gleicherma­ßen unerfüllt, von der Fragilität von Gemeinscha­ften, von kollektive­r Schuld und natürlich von Krankheit und Tod. Keine unbeschwer­te Lektüre. Aber eine berührende.

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Barry Goldstein Der US-Autorin Andrea Barrett ist eine ungewöhnli­che Geschichte gelungen.

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