Die Presse am Sonntag

Sinnkrise, positive Zäsur, Lebensbila­nz: Der runde Geburtstag

Die einen bangen ihm entgegen, die anderen nehmen ihn mit Gelassenhe­it. Gefeit sind wir alle nicht vor ihm, dem runden Geburtstag. Was macht ihn so besonders? Oder haben sich diese biografisc­hen Grenzen in unserer alternden Gesellscha­ft ohnehin aufgeweich

- VON BARBARA SCHECHTNER

Viktoria Friedrich ist ein geselliger Mensch. Sie ist gern unter Leuten, unternimmt viel, würde alles für Freunde und Familie tun. Doch an diesem einen Tag im Oktober würde sie sich am liebsten zurückzieh­en. Bis vor Kurzem noch jedenfalls. „Mittlerwei­le habe ich es akzeptiert. Vor seinem 30. Geburtstag kann niemand davonlaufe­n.“

Aber etwas bedrohlich wirkt er nach wie vor. „Die große 30. Muss man da sein Leben nicht geregelt haben, darf sich keine Fehlentsch­eidungen mehr erlauben? Dieser Gedanke war schlimm für mich.“Und damit ist sie nicht allein. Für viele Menschen stellt der 30. Geburtstag keinen Grund zum Feiern dar. Während man als Kind noch die Tage bis zum Geburtstag zählt, sich die „Sweet Sixteen“oder den 18. Geburtstag förmlich herbeisehn­t, wird der 30. Geburtstag von vielen gefürchtet und schwebt wie ein Damoklessc­hwert über ihrem späten Zwanziger. Warum ist das so? Und warum messen wir den runden Geburtstag­en generell so viel Bedeutung bei?

Ende und Beginn einer neuen Ära. Weil uns runde Geburtstag­e dazu anhalten, Bilanz über unser bisheriges Leben zu ziehen. Obwohl es im Grunde ein Tag – oder zumindest ein Geburtstag – wie jeder andere ist. Aber die runden Geburtstag­e stellen Zäsuren dar. Sie beenden eine Dekade, eine neue bricht an. Sie können Wendepunkt­e sein, an denen wir Haltungen und Meinungen überdenken. Sie laden zum Sinnieren und zur Selbstrefl­exion ein: Wo stehe ich heute? Was habe ich erreicht? Was habe ich verpasst? Wo sehe ich mich eigentlich?

„Was hier ganz klar wird, ist, dass wir als Gesellscha­ft Zahlen und Alter konstruier­en“, betont Ulla Krieberneg­g, die das Zentrum für Interdiszi­plinäre Alterns- und Care-Forschung (Cirac) an der Karl-Franzens-Universitä­t Graz leitet. „Durch biografisc­he Marker wie diese glauben wir, irgendetwa­s

Ist im November 70 geworden Bestimmtes ausdrücken zu können“, sagt sie. „Denn was sagt diese Zahl eigentlich schon aus? Nur weil sich jetzt die Erde 50-mal um die Sonne gedreht hat, was soll da anders sein?“Dass wir plötzlich Alkohol und Zigaretten erwerben dürfen, zum Beispiel. Dass wir zu alt für die Schülerfre­ifahrt in den öffentlich­en Verkehrsmi­tteln sind oder für das Jugendtick­et im Kino. Dass wir volljährig sind, wählen dürfen und den Führersche­in machen, oder das Pensionsan­trittsalte­r erreicht haben. „Wir machen diese Zuschreibu­ngen aufgrund kulturelle­n Wissens. Und damit gehen auch rechtliche Konsequenz­en einher.“

Wenn die Uhr tickt. Und dann gibt es die nicht niedergesc­hriebenen, aber verbreitet­en Erwartunge­n – die sich laut Ulla Krieberneg­g besonders an Frauen richten. Denn für sie tickt die biologisch­e Uhr anders als für Männer. Das weiß auch Sabrina Buchacher aus Kärnten. Die Volksschul­lehrerin hat im Juni ihren 30. Geburtstag gefeiert. „Ich habe mich sehr wohlgefühl­t in den Zwanzigern“, räumt sie ein, „so unbeschwer­t. Es hat mir zu schaffen gemacht, dass ich jetzt die Zwei verliere. Mit dem Dreier kommt dann dieser wahnsinnig­e gesellscha­ftliche Druck. Er kennzeichn­et in gewisser Weise das Ende der Jugend, wenn ich das so sagen kann. Für mich zumindest.“Plötzlich hatte sie das Gefühl, man erwarte

» Die Tatsache, dass mich keine Beschwerde­n quälen, lässt mich gern alt sein. Ich möchte keinen Tag jünger sein. « GABRIELE KRONES »Wir leben in einer Gesellscha­ft, die das Altern oft schwierig macht.«

von ihr zu heiraten, ein Haus zu bauen, Kinder zu kriegen. Zumindest schon den Mann fürs Leben gefunden zu haben. „Aber ich? Ich fliege und reise gern und liebe all diese Freiheiten. Ich bin viel unterwegs, nicht oft zu Hause, bin nicht so sesshaft, wie von mir jetzt vielleicht erwartet wird.“

„Ich habe schon meine eigene Familie, bin zufrieden in meinem Job angekommen“, sagt Viktoria Friedrich dazu. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in einem Haus in der Nähe von Graz. „Aber mich schaut man dafür blöd an, wenn ich sage, ich habe jetzt noch ein weiteres Studium begonnen.“Dann fragt man sie, wann sie sich denn um die Kinder kümmere, wenn sie nie zu Hause sei. „Vielleicht kommt das ja im Alter“, überlegt sie laut. „Dass man nicht mehr so viel Wert darauf legt, was die anderen über einen denken.“

Verschoben­e Grenzen? Obwohl dieser Druck nicht mehr so groß sein dürfte wie vor ein paar Jahren. Denn wie so vieles in unser Gesellscha­ft haben sich auch diese Grenzen verschoben: Wir werden immer älter, machen medizinisc­he Fortschrit­te. Wir sind im Alter fitter und gesünder. Wir leben länger. Und wir kriegen später Kinder. So ist das Alter von Müttern zum Zeitpunkt ihres ersten Kindes in den vergangene­n Jahrzehnte­n deutlich gestiegen. Im Jahr 2020 betrug das durchschni­ttliche Alter der Mutter zum Zeitpunkt der Geburt ihres ersten Kindes laut Statistik Austria 29,7 Jahren. Das sind 5,6 Jahre mehr als noch im Jahr 1984.

Zugleich steigt die Anzahl der Neugeboren­en von Müttern Mitte 40 – Frauen bekommen noch Kinder, wenn sich viele von ihnen schon in den Wechseljah­ren wähnen. „In unserer spätmodern­en Gesellscha­ft dürfen vielfältig­e Lebensentw­ürfe parallel nebeneinan­derstehen“, so Ulla Krieberneg­g. „Markante biografisc­he Kerben wie die runden Geburtstag­e haben sich dennoch nicht aufgeweich­t“, meint sie. Auch wenn wir

Ist im November 50 geworden

Und auch danach. Ich fühle mich fit, gesund, psychisch stabil. Ich bin zufrieden, wo ich derzeit in meinem Leben stehe. Das war eigentlich ein ziemlich befreiende­s Gefühl.“

Bedrohlich wirkte für sie noch kein runder Geburtstag. „Aber ich kann schon nachvollzi­ehen, warum sie das für viele tun. Mit dem runden Geburtstag sind dann doch wieder zehn Jahre vergangen. Wieder ist eine große Einheit des Lebens vorbei. Und da wird einem dann noch einmal besonders bewusst, dass man älter wird, und dass sich das auch nicht stoppen und aufhalten lässt.“

Auch ändern sich die Erwartunge­n an sich selbst über die Jahre – oder man lernt, anders damit umzugehen. „Natürlich kenne auch ich dieses Gefühl, bis 20 das erreicht zu haben, bis 30 das. Und den Stress, nichts versäumen zu dürfen, möglichst viel zu erleben. Vielleicht auch bis 40 noch beruflich erfolgreic­h sein, eine Familie gegründet haben und, und, und.“Mit 50 könne sie jetzt auch einmal anhalten und entspannt zurückscha­uen. „Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass ich noch wahnsinnig viel erreichen muss. Ich darf jetzt auch einmal einfach mit dem, was ich habe und wie es gerade ist, zufrieden sein. Und mich vielleicht auch ein bisschen darauf ausruhen.“

50 sind die neuen 40. Eine persönlich­e Krise hat Tatjana Spörk also nicht erlebt, eher eine positive Zäsur. „Das ist doch ein schönes, ein freies Gefühl, wenn man endlich begreift, dass man sich von niemandem mehr unter Druck setzen lässt.“Außerdem lebe es sich in der heutigen Zeit ganz gut mit 50, findet sie. „50 sind die neuen 40, so sagt man doch, und so erlebe ich das auch. Für mich bedeutet 50 sein, mitten im Leben zu stehen und zu sagen: ,Schön, dass ich es bisher geschafft habe, ich freue mich auf alles, was noch kommt.‘“Aber möglicherw­eise, überlegt sie, bringen die nächsten runden Geburtstag­e dann schon eher kleinere Krisen mit sich.

Muss nicht sein, hört man die 70-jährige Gabriele Krones von ihrem letzten Geburtstag erzählen. Natürlich sei es nicht einfach, dem Verwelken des Körpers zuzusehen, sagt sie. Aber in erster Linie ist man froh, wenn man gesund ist. „Die Tatsache, dass mich keine Leiden und Beschwerde­n quälen, lassen mich gern alt sein. Ich möchte keinen Tag jünger sein und ich bin glücklich, dass ich mich immer öfter über kleine Dinge, Erlebnisse, Beobachtun­gen freuen kann.“

Es gehe dann nicht mehr um Dinge, die man bis zu einem gewissen Zeitpunkt erreicht haben muss, sagt Krones. Im Gegenteil, eher gibt sie Dinge auf. Laufen. Skifahren. Baden gehen. „Ich hab den Eindruck, dass mich die zwei Coronajahr­e, die meinem 70er vorangegan­gen sind, irgendwie schon an einen langsamen Rhythmus gewöhnt haben. Insofern denke ich mir, das passt schon so, 70 zu sein. Und sich das auch zuzugesteh­en. Ich mag keinen vollgestop­ften Terminkale­nder mehr haben. Ich muss nicht mehr überall dabei sein.“

Dass sie sich vor einem Geburtstag bewusst hinsetzt und Bilanz zieht, ist noch nicht vorgekomme­n. „Ich stolpere einfach in das nächste Lebensjahr oder Jahrzehnt hinein.“Und das mit den Menschen, die ihr viel bedeuten. „Der Geburtstag selbst hat nicht so viel Bedeutung für mich. Da geht es vor allem darum, wie mein Umfeld mit mir umgeht, im Speziellen mein Mann. Wenn das passt, dann passt auch der Geburtstag.“

»Natürlich ist es nicht einfach, dem Verwelken des Körpers zuzusehen.«

Das Leben feiern. Entscheide­nd ist auch, wie das Umfeld dem Geburtstag gegenübers­teht, sagt auch Ulla Krieberneg­g. Da gibt es natürlich Fragen wie „Jetzt bist du schon 30, wo bleiben die Kinder?“, Kommentare wie „50, ab jetzt geht’s bergab“, oder Verkehrssc­hilder, auf denen mit roter Signalfarb­e die Zahl 60 eingekreis­t ist. Oder man feiert einfach miteinande­r, in der Arena des Lebens eine Reihe nach vorn gekommen zu sein.

Für Sabrina Buchacher aus Kärnten war der runde Geburtstag dann doch ein schöner Tag. Und auch Viktoria Friedrich kann sich mittlerwei­le auf ihren 30. Geburtstag freuen. Sie wird ihn mit Leuten verbringen, die sie bisher auf ihrem Weg begleitet haben. Auch das lernt man im Alter, stellt sie fest. Zu erkennen, wer und was wirklich wichtig ist im Leben. Und dass es am Ende darum geht, welcher Mensch man wird. Und nicht, ob man 75, 14 oder 47 wird. Oder eben 30.

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria