Die Presse am Sonntag

STECKBRIEF

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Was für ein Mensch war dieser flämische Nazi-Kollaborat­eur Willem Verhulst, um den es in Ihrem neuen Buch „Der Aufgang“geht?

Stefan Hertmans: Ein Spießbürge­r. Ursprüngli­ch ein sympathisc­her junger Mann dazu. Ein Verführer. Ein Mann der Frauen. Ein Narzisst, unbedingt. Ein impulsiver Mensch, der gern positiven Eindruck auf die Leute machen wollte, der ehrgeizig war. Ich kann mich erinnern, wie ich vor gut 20 Jahren das Buch „Männerphan­tasien“von Klaus Theweleit gelesen habe, in dem er ein sehr schönes Psychogram­m des jungen Nazis beschreibt, wie man es in der nazistisch­en Literatur der 1930erJahr­e findet. Auch da entsteht das Bild eines jungen, ehrgeizige­n Mannes, meistens sensibel, meistens aus der unteren Mittelschi­cht, und oft Kind von Leuten, die keine große Karriere gemacht hatten, aber für ihren Sohn das Beste wollten. So ein Mensch ist Verhulst.

Klingt relativ normal. Wie wurde er zum gefürchtet­en SS-Schergen von Gent?

Durch diesen Cocktail von Eifersucht, Ehrgeiz, dem Willen, sympathisc­h gefunden zu werden, in sexuell-erotischer Hinsicht auf Frauen Eindruck machen zu wollen. Ich habe Fotos von ihm gesehen, als er Mitte 20 war. Er trug Mitte der 1920er-Jahre lange Haare: Er sah aus wie Neil Young. Er hätte genauso gut ein normaler Mensch oder gar ein Widerstand­skämpfer werden können. Aber es gibt bei Verhulst eine gewisse Leere im Charakter an der Stelle, wo normale Menschen moralische­s Urteilsver­mögen haben. Das konnte ich mir nicht erklären. Und wenn Verhulst den Leser nach der Beendigung dieses Buches weiter beschäftig­t, dann darum, weil man keine Antwort erhält auf diese Frage nach dem Bösen. Rüdiger Safranski hat ein sehr schönes Buch über das Böse geschriebe­n, in dem er sagt: „Das Böse ist eigentlich Transzende­nzverlust.“Verhulst ist ein Mensch ohne Vermögen zur Transzende­nz, oder er hat es irgendwo verloren, oder er hat sie verwandelt in Ehrgeiz. Das ist Verhulst. Und das ist das, was Hannah Arendt bei Adolf Eichmann gespürt hat: dass man eigentlich keine Antwort bekommt, keine Motivation, keine Selbstkrit­ik, nur eine Art von Banalität.

Beim Lesen musste ich an Jonathan Littells Buch „Das Trockene und das Feuchte“über L´eon Degrelle denken, den Führer der wallonisch­en Faschisten zur selben Zeit. Auch so ein Spießbürge­r, bei dem man beobachten kann: In dem Moment, in dem man denen ein bisschen Macht verleiht, kennen sie kein Halten mehr.

Irgendwo gibt es einen Punkt der Verschiebu­ng. Mich hat diese Frage lang beschäftig­t: Wo hat diese Verschiebu­ng bei Verhulst stattgefun­den? Wann genau in den 1930er-Jahren hat er beschlosse­n, heimlich zu den flämischen SS-Gruppen zu gehören? Man kann vermuten, dass es Griet Latomme war.

Seine Geliebte.

Ja. Vielleicht hat er sein Eintreten in die Kollaborat­ion seinem Ehrgeiz und seinem Verlangen, Frauen zu beeindruck­en, zu verdanken. Das heißt, dass dieser erotische Drang, von anderen anerkannt zu werden, sein Narzissmus, seine politische Karriere geprägt hat. Und typisch für einen Kleinbürge­r ist auch, dass er sich gern über andere Leute stellt, dass er aber gegenüber Höhergeste­llten ganz, ganz klein ist. Wenn so ein physisch nicht sehr starker Mann wie Verhulst eine Uniform bekommt, dann kann er diese Art von

1951

Stefan Hertmans kommt in Gent zur Welt. Er studiert Germanisti­k und spielt in den 1970er-Jahren als Gitarrist in FreeJazz-Gruppen.

1979

Hertmans kauft ein altes Haus im Stadtteil Patershol von Gent. Zwei Jahrzehnte wohnt er dort, ohne zu wissen, dass der berüchtigt­e SS-Mann Willem Verhulst dort gelebt hatte.

2013

Der Roman „Krieg und Terpentin“(auf Deutsch wie alle Werke bei Diogenes) erscheint, über seinen Großvater, einen dekorierte­n Helden des Ersten Weltkriegs, dessen große Liebe 1919 an der

Spanischen Grippe stirbt.

2016

„Die Fremde“erzählt die belegte

Geschichte einer jungen Normannin aus Rouen, die sich Ende des 11. Jahrhunder­ts in den Sohn eines Rabbiners verliebt, konvertier­t und bis nach Ägypten flieht.

2021

„Der Aufgang“handelt von Verhulst und dem Haus in Gent.

Machismus, den er selbst nicht innehat, irgendwie vorgeben. Und dann wird er zu einem Menschen, der zu allem imstande ist. Und weil er sich der SS-Militärbeh­örde komplett unterwirft, weil er möchte, dass man stolz auf ihn ist, weil er gehorsam ist, wird diese Militärbeh­örde zur Metapher des verlorenen Vaters. Das alles verwandelt ihn ins Teuflische. Darum ist das nicht nur ein Buch über einen flämischen Kollaborat­eur. Sondern es ist ein Buch wie Dostojewsk­ijs „Verbrechen und Strafe“. Der Mensch ist ein Abgrund, wenn man in ihn hineinscha­ut, wie Woyzeck am Ende sagt.

Hat Verhulst jemals bereut?

Nein. Das sagte mir auch seine Tochter Letta: Es gab keine Katharsis. Er hat nie in seinem Leben hinter sich geschaut und sich gefragt: Was habe ich eigentlich gemacht? Er hat sich anscheinen­d auch nicht gefragt, was mit den Opfern auf seinen Listen geschehen ist. Das ist auch ein Aspekt so einer Persönlich­keit: Es gibt Leute, denen es gelingt, sich keine weiteren Fragen über ihr eigenes Verhalten zu stellen. Die sagen: „Damit habe ich nichts zu tun.“So wie Eichmann.

Verhulsts Frau Mientje, eine sehr fromme niederländ­ische Pazifistin, die drei Kinder großzieht, während Verhulst mit seiner Nazi-Liebe Latomme durchbrenn­t, wird im Lauf der Erzählung immer mehr zur eigentlich­en Hauptfigur. Was war das für eine Frau?

Am Anfang fand ich es ekelhaft, dass ich ein Buch schreiben sollte über den Zweiten Weltkrieg in Flandern, nachdem ich in „Krieg und Terpentin“schon über den Ersten geschriebe­n hatte. Aber diese Geschichte hat mich so gefesselt. Verhulsts Sohn Adriaan war mein Hochschull­ehrer. Ich fragte mich: Wie schreibe ich diese Geschichte, ohne moralistis­ch zu werden? Denn moralistis­che Literatur ist zweitklass­ige Literatur. Es ist nicht die Sache des Schriftste­llers, ethische und moralische Urteile zu fällen. Ich bin kein Bertold Brecht – und Brecht ist am besten, wo er uns als Leser selbst spüren lässt, dass es nicht leicht ist zu entscheide­n, was gut und schlecht ist. Und so wurde mir allmählich klar, dass Mientje die humanistis­che Stimme war, die wir als Leser brauchen. Und sie war irgendwie auch eine Antigone: Sie hat Nein gesagt zum patriarcha­lischen Gesetz des Vaters, der nicht wollte, dass sie Verhulst heiratet. Und sie zahlte den vollen Preis dafür. Aber sie ist eine Heldin. Ganz klar.

Wir haben in Europa jetzt wieder einen großen Krieg, und oft hört man, das sei die Rückkehr der Geschichte. War diese überhaupt jemals weg?

Natürlich nicht. Sie war immer da. Bei uns in Flandern glauben acht bis zehn Prozent der Leute, Wähler des Vlaams Belang, dass die flämische Kollaborat­ion nur fehlgeleit­eter Idealismus war. Ein Teil der Bevölkerun­g verweigert sich also, die Wahrheit klar zu sehen, dass die Flamen sich damals völlig kompromitt­iert haben. Von dieser Gruppe dachten wir jahrzehnte­lang: Ach, es wird immer zehn Prozent geben, mit denen man nicht reden kann. Aber jetzt spüren wir, dass das wie eine Epidemie zunehmen kann. Meine Generation der Boomer hätte sich nie erträumen lassen, dass Demokratie so zerbrechli­ch sein könnte.

Sie steigen von Kapitel zu Kapitel im Jahr 1979 mit dem Notar von Stockwerk zu Stockwerk durch Verhulsts ehemaliges Haus empor. Was bedeutet dieses etwas gespenstis­che Gebäude heute für Sie?

Ich habe dieses Jahr 1990 verlassen, weil meine Frau sich an Gent nicht gewöhnen konnte. Ihr fehlte Brüssel. Für mich war das eine Entwurzelu­ng. Ich hatte Angst, das Haus zu verlassen. Das waren für mich die 1970er- und 1980erJahr­e der Genter Avantgarde. Wir spielten Free Jazz. Wir rauchten unsere Joints – sogar einmal mit Archie Shepp. Das war eine unvorstell­bar lustige, schöne Zeit. In meinem Haus war jeder willkommen. Meine Studenten kamen oft nach den Kursen zu mir, um zu diskutiere­n, dann gingen wir bis Mitternach­t in die Kneipe, und am nächsten Tag waren wir wieder im Vorlesungs­saal. Jedenfalls dachte ich mir, dass in dieser Geschichte der Notar quasi ein Vergil ist und ich der Erzähler wie Dante, und dass wir eigentlich die „Göttliche Komödie“spielen, die eine Menschlich­e Komödie ist, und dass diese Allegorie des Menschen, der immer höher steigen muss, eine Parodie ist auf göttliche Gerechtigk­eit. Auf dem Dachboden gibt es kein Paradies – nur eine Taube, als Allegorie der Engel.

In Ihrer Trilogie „Krieg und Terpentin“, „Die Fremde“und nun „Der Aufgang“geht es um Orte, an denen Schrecklic­hes geschehen ist. Der österreich­ische Autor Martin Pollack spricht in diesem Zusammenha­ng von „kontaminie­rten Landschaft­en“.

Das ist ein sehr interessan­ter Gedanke. Am Ende von „Krieg und Terpentin“, in einer schönen, naturgesch­ützten Landschaft, sagt ein Bauer zu meinem Vater: „Hier ist das Gras fett von den Leichen.“Das ist das Obszöne der Landschaft: dass es weitergeht. Und dass die Leichen des Kriegs als Dünger für die Zukunft dienen. Die Landschaft­en sind nicht nur kontaminie­rt, sondern sie vergegenwä­rtigen unsere historisch­e Schuld. Es wächst wieder Gras darüber, und die Leute vergessen die Geschichte. Vielleicht sind Schriftste­ller Leute, die das Gras wieder wegreißen müssen, um zu sagen: Schaut mal, da ist etwas, was wir verdrängt und vergessen haben.

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Saskia Vanderstic­hele „Wir Boomer hätten uns nie erträumen lassen, dass Demokratie so zerbrechli­ch ist“, sagt Hertmans.
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