Der unerwünschte Gast: Wenn der Gerichtsvollzieher klingelt
Letzter Ausweg Privatkonkurs. Während der Staat das Entschulden erleichtert, lassen Schuldner sich lieber regelmäßig von einem Gerichtsvollzieher besuchen.
An den vergilbten Wänden hängen Bilder der Kinder, auf dem überfüllten Tisch packt der Gerichtsvollzieher seinen Laptop aus. Die Schuldnerin steht teilnahmslos im Raum und zieht an ihrer Zigarette. Nach einiger Zeit nimmt sie zwar die Exekutionsbewilligung in die Hand, scheint sie aber nicht zu lesen. Dass sie zuerst die falsche in der Hand hält, fällt ihr nämlich nicht auf.
„Was passiert mit den Schulden, wenn ich tot bin?“, ist ihre einzige Frage. „Wenn Sie sterben, ist die Angelegenheit erledigt“, so die trockene Antwort von Theo Berg. Berg ist Gerichtsvollzieher und möchte seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Dafür ist Vorarlberg – das Bundesland, in dem er tätig ist – zu klein.
Besuche wie diese stehen auf seiner Tagesordnung, und routiniert nimmt er der Schuldnerin die Daten für ein Vermögensverzeichnis ab. Spareinlagen, Eigentumsrechte und Verdienste werden aufgelistet. Von diversen Pensionsversicherungen in Österreich und Liechtenstein erhält sie knapp 400 Euro, ansonsten lebt sie von ihrem Ehemann. Dann zieht Berg eine Halterabfrage aus der Gerichtsakte hervor. Wem denn das Auto gehöre, das auf sie zugelassen sei, fragt er.
Eine solche Halterabfrage wird routinemäßig vor jedem Hausbesuch gemacht. Die Schuldnerin beteuert, dass das Auto ihrem Mann gehöre, findet jedoch den dazugehörigen Kaufvertrag nicht. Dann liegt es im Ermessen des Gerichtsvollziehers, ob das Auto trotzdem gepfändet wird.
In diesem Fall verzichtet Berg darauf, er kennt die Schuldnerin schon einige Jahre, und auch aufgrund des Alters des Autos weiß er, dass die Versteigerung schlussendlich erfolglos verlaufen würde.
Quer durch alle Schichten. An diesem Montagvormittag besucht Berg noch eine Handvoll Personen. Die Wohnungen ähneln sich allesamt und befinden sich hauptsächlich in sozial schwächeren Stadtgebieten. Dass alle Schuldner aber arme Schlucker sind, lässt Berg nicht gelten, sie verteilen sich quer durch alle Gesellschaftsschichten: Anwälte, Zahnärzte und Junkies.
Selbst einen Weinkeller hat er einmal gepfändet – die Schuldner hatten sich bei den Baukosten verkalkuliert. Das Vermögensverzeichnis, das Berg der Schuldnerin abgenommen hat, wird nun über den offiziellen Rechtsverkehr an die Gläubiger geschickt. Dort wird auch das erwähnte Auto angeführt – wenn der Gläubiger einen Antrag stellt, kann es trotzdem gepfändet werden. Aber Berg kann sich auf sein Bauchgefühl verlassen.
„Das ist in diesem Job essenziell“, sagt er. „Empathie, starker Charakter und Menschenkenntnis – das ist das Wichtigste.“Und fügt noch an: „Die Schuldnerin hat diesen Kredit damals für einen Urlaub aufgenommen.“
Einmal habe er Schulden für ein Fotobuch eingetrieben – dafür fehlt Berg das Verständnis. Laut einer Studie der ASB Schuldnerberatung sind Arbeitslosigkeit und eine damit verbundene Einkommensverschlechterung noch immer der Hauptgrund für Privatkonkurse.
Die zweithäufigste Ursache ist aber der Umgang mit Geld – dass mittlerweile sämtliche Konsumgüter mit NullProzent-Finanzierungen oder der Bezahlmethode „Buy Now, Pay Later“zu haben sind, erleichtert diesen Umgang nicht.
Insolvenzverfahren. Wer Schulden hat, kann sich an die Schuldnerberatung wenden – jedes Bundesland weist seine eigenen Anlaufstellen auf. Dort wird dann versucht, eine Lösung zu finden, beispielsweise via Ratenzahlungen. Wenn die Beträge aber schon zu hoch angewachsen sind, ist auch ein Schuldenregulierungsverfahren, also ein Privatkonkurs, eine Lösung. Ein Großteil dieser Verfahren läuft mit Begleitung der Schuldnerberatung ab.
Im ersten Halbjahr 2022 wurden bundesweit 4225 Schuldenregulierungsverfahren eröffnet. Das ist ein Anstieg um mehr als 30 Prozent zum Vorjahresvergleich, da waren es noch 3247. In einem Privatinsolvenzverfahren können alle Gläubiger ihre Forderungen anmelden und werden dann mittels Zahlungsplan oder Abschöpfungsverfahren bedient. Vor 2017 war ein Insolvenzverfahren noch langwierig, die Frist für die Entschuldung dauerte sieben Jahre, und es mussten mindestens zehn Prozent der offenen Forderungen bezahlt werden – andernfalls wurde keine Restschuldbefreiung erteilt und die Schulden bestanden weiter.
2017 erfolgte dann die besagte Reform, die Zehn-Prozent-Hürde wurde abgeschafft, und das Verfahren verkürzte sich auf fünf Jahre. Damals war der Effekt sofort spürbar. Gleich im nächsten Montag stieg die Zahl der Insolvenzfälle an, so Cornelia Wesenauer, Sprecherin des Alpenländischen Kreditorenverbands (AKV), im Gespräch mit der „Presse“.
Im Jahr 2021 gab es eine neuerliche Reform – das Entschuldungsverfahren dauert nun nur mehr drei Jahre. Diesmal wirkt sich das nicht ganz so klar aus: Die Zahl der Verfahren ist zwar laut Wesenauer gestiegen, aber nicht so stark, wie von Experten erwartet wurde – trotz der Covid-Krise. Aber im Hinblick auf den Herbst und die damit verbundenen Teuerungen rechnet Wesenauer noch mit einem Anstieg. Auch Schuldnerberatungen haben bereits bekannt gegeben, dass die Beratungstermine rasant anwachsen.
Zurück nach Vorarlberg: Wenn die Tür von einem Kind geöffnet wird, verabschiedet sich Berg rasch wieder. Bei unter 14-Jährigen darf er nicht ohne Begleitung in die Wohnung. Gerichtsvollzieher ist kein Berufsbild, das man sich schon als kleines Kind wünscht. Auch bei Berg ist es eher zufällig zustande gekommen, sein Ziel war ursprünglich, Rechtspfleger zu werden.
Durch einen Personalnotstand rutschte er in die Rolle des Gerichtsvollziehers und ist dort geblieben. Zuvor hatte er dieselben Vorurteile, die er jetzt auch immer wieder von anderen hört, dass der Job „nur negativ“sei und keinen Spaß mache. Bundesweit gibt es mit Stichtag 1. Juli 295 Gerichtsvollzieher: 244 Männer und 51 Frauen.
Die meisten der Schuldner, die Berg an diesem Tag aufsucht, kennt er schon seit einiger Zeit. Sie freuen sich, ihn zu sehen, und beginnen zu plaudern. Manche davon kennt er schon aus seinen Anfangszeiten als Gerichtsvollzieher – mittlerweile arbeitet er seit fast 25 Jahren in diesem Beruf.
Im Jahr 2021 stellte das Justizministerium eine Reform auf die Beine, die genau dieses Problem lösen sollte – dass Schuldner jahrelang sinnloserweise exekutiert werden. Wenn der Gerichtsvollzieher eine Zahlungsunfähigkeit feststellt, muss er diese nun neuerdings an den Rechtspfleger melden, und das Gericht fasst anschließend den Beschluss der „offenkundigen Zahlungsunfähigkeit“.
Damit kann das Privatkonkursverfahren eröffnet werden. Die Idee ist gut, aber in der Praxis hänge die Umsetzung rein an der Eigeninitiative von Rechtspflegern und Gerichtsvollziehern, so Wesenauer. Er führt Tirol als Positivbeispiel an – bisher wurden in keinem Bundesland so viele derartige Verfahren eröffnet wie dort. Interessant ist dabei, dass sich das Gehalt des Gerichtsvollziehers unter anderem auch daraus zusammensetzt, wie viele Vollzüge er absolviert.
Selbstverteidigung. An der Hüfte von Berg hängt eine kleine schwarze Gürteltasche: Jedes Bezirksgericht stellt seinen Gerichtsvollziehern einen Pfefferspray für die Selbstverteidigung zur Verfügung. Benutzt hat Berg ihn in den vergangenen 25 Jahren nur einmal: gegenüber einem Hund, der ihn beim Öffnen der Tür angefallen hatte. Angst habe er jedoch nie. Wenn Schuldner sich unkooperativ verhalten, wendet er sich an die Polizei. Diese ist üblicherweise schnell zur Stelle und bringt bei möglichen Problemfällen auch mal die Cobra-Sondereinheit mit.
Für manche Schuldner ist Berg auch ein Retter in der Not – denn viele stecken den Kopf in den Sand und wollen nicht mit den Gläubigern kommunizieren. Dann versucht er vor Ort zu helfen und übernimmt die erste Kontaktaufnahme mit den Gläubigern. Oft schon hat er den Schuldnern durch eine Abschlagszahlung oder Ratenvereinbarungen geholfen. Berg erzählt von einem ehemaligen Schuldner, der so dankbar für seine Hilfe war, dass er ihm eine Karte mit persönlichen Worten geschenkt habe. Als Gerichtsvollzieher sei man mehr als nur ein Schuldeneintreiber, die Menschen, die man aufsuche, stünden unter großem Druck. Der Beruf ist also wirklich mehr, als die Vorurteile glauben lassen.
Zahnärzte, Anwälte und Junkies – die Klientel verläuft quer durch die Gesellschaft.
Bislang hat die Reform der Exekutionsverfahren noch keine Erleichterung gebracht.
LEXIKON