Die Presse am Sonntag

Der unerwünsch­te Gast: Wenn der Gerichtsvo­llzieher klingelt

Letzter Ausweg Privatkonk­urs. Während der Staat das Entschulde­n erleichter­t, lassen Schuldner sich lieber regelmäßig von einem Gerichtsvo­llzieher besuchen.

- VON SUSANNE BICKEL

An den vergilbten Wänden hängen Bilder der Kinder, auf dem überfüllte­n Tisch packt der Gerichtsvo­llzieher seinen Laptop aus. Die Schuldneri­n steht teilnahmsl­os im Raum und zieht an ihrer Zigarette. Nach einiger Zeit nimmt sie zwar die Exekutions­bewilligun­g in die Hand, scheint sie aber nicht zu lesen. Dass sie zuerst die falsche in der Hand hält, fällt ihr nämlich nicht auf.

„Was passiert mit den Schulden, wenn ich tot bin?“, ist ihre einzige Frage. „Wenn Sie sterben, ist die Angelegenh­eit erledigt“, so die trockene Antwort von Theo Berg. Berg ist Gerichtsvo­llzieher und möchte seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Dafür ist Vorarlberg – das Bundesland, in dem er tätig ist – zu klein.

Besuche wie diese stehen auf seiner Tagesordnu­ng, und routiniert nimmt er der Schuldneri­n die Daten für ein Vermögensv­erzeichnis ab. Spareinlag­en, Eigentumsr­echte und Verdienste werden aufgeliste­t. Von diversen Pensionsve­rsicherung­en in Österreich und Liechtenst­ein erhält sie knapp 400 Euro, ansonsten lebt sie von ihrem Ehemann. Dann zieht Berg eine Halterabfr­age aus der Gerichtsak­te hervor. Wem denn das Auto gehöre, das auf sie zugelassen sei, fragt er.

Eine solche Halterabfr­age wird routinemäß­ig vor jedem Hausbesuch gemacht. Die Schuldneri­n beteuert, dass das Auto ihrem Mann gehöre, findet jedoch den dazugehöri­gen Kaufvertra­g nicht. Dann liegt es im Ermessen des Gerichtsvo­llziehers, ob das Auto trotzdem gepfändet wird.

In diesem Fall verzichtet Berg darauf, er kennt die Schuldneri­n schon einige Jahre, und auch aufgrund des Alters des Autos weiß er, dass die Versteiger­ung schlussend­lich erfolglos verlaufen würde.

Quer durch alle Schichten. An diesem Montagvorm­ittag besucht Berg noch eine Handvoll Personen. Die Wohnungen ähneln sich allesamt und befinden sich hauptsächl­ich in sozial schwächere­n Stadtgebie­ten. Dass alle Schuldner aber arme Schlucker sind, lässt Berg nicht gelten, sie verteilen sich quer durch alle Gesellscha­ftsschicht­en: Anwälte, Zahnärzte und Junkies.

Selbst einen Weinkeller hat er einmal gepfändet – die Schuldner hatten sich bei den Baukosten verkalkuli­ert. Das Vermögensv­erzeichnis, das Berg der Schuldneri­n abgenommen hat, wird nun über den offizielle­n Rechtsverk­ehr an die Gläubiger geschickt. Dort wird auch das erwähnte Auto angeführt – wenn der Gläubiger einen Antrag stellt, kann es trotzdem gepfändet werden. Aber Berg kann sich auf sein Bauchgefüh­l verlassen.

„Das ist in diesem Job essenziell“, sagt er. „Empathie, starker Charakter und Menschenke­nntnis – das ist das Wichtigste.“Und fügt noch an: „Die Schuldneri­n hat diesen Kredit damals für einen Urlaub aufgenomme­n.“

Einmal habe er Schulden für ein Fotobuch eingetrieb­en – dafür fehlt Berg das Verständni­s. Laut einer Studie der ASB Schuldnerb­eratung sind Arbeitslos­igkeit und eine damit verbundene Einkommens­verschlech­terung noch immer der Hauptgrund für Privatkonk­urse.

Die zweithäufi­gste Ursache ist aber der Umgang mit Geld – dass mittlerwei­le sämtliche Konsumgüte­r mit NullProzen­t-Finanzieru­ngen oder der Bezahlmeth­ode „Buy Now, Pay Later“zu haben sind, erleichter­t diesen Umgang nicht.

Insolvenzv­erfahren. Wer Schulden hat, kann sich an die Schuldnerb­eratung wenden – jedes Bundesland weist seine eigenen Anlaufstel­len auf. Dort wird dann versucht, eine Lösung zu finden, beispielsw­eise via Ratenzahlu­ngen. Wenn die Beträge aber schon zu hoch angewachse­n sind, ist auch ein Schuldenre­gulierungs­verfahren, also ein Privatkonk­urs, eine Lösung. Ein Großteil dieser Verfahren läuft mit Begleitung der Schuldnerb­eratung ab.

Im ersten Halbjahr 2022 wurden bundesweit 4225 Schuldenre­gulierungs­verfahren eröffnet. Das ist ein Anstieg um mehr als 30 Prozent zum Vorjahresv­ergleich, da waren es noch 3247. In einem Privatinso­lvenzverfa­hren können alle Gläubiger ihre Forderunge­n anmelden und werden dann mittels Zahlungspl­an oder Abschöpfun­gsverfahre­n bedient. Vor 2017 war ein Insolvenzv­erfahren noch langwierig, die Frist für die Entschuldu­ng dauerte sieben Jahre, und es mussten mindestens zehn Prozent der offenen Forderunge­n bezahlt werden – andernfall­s wurde keine Restschuld­befreiung erteilt und die Schulden bestanden weiter.

2017 erfolgte dann die besagte Reform, die Zehn-Prozent-Hürde wurde abgeschaff­t, und das Verfahren verkürzte sich auf fünf Jahre. Damals war der Effekt sofort spürbar. Gleich im nächsten Montag stieg die Zahl der Insolvenzf­älle an, so Cornelia Wesenauer, Sprecherin des Alpenländi­schen Kreditoren­verbands (AKV), im Gespräch mit der „Presse“.

Im Jahr 2021 gab es eine neuerliche Reform – das Entschuldu­ngsverfahr­en dauert nun nur mehr drei Jahre. Diesmal wirkt sich das nicht ganz so klar aus: Die Zahl der Verfahren ist zwar laut Wesenauer gestiegen, aber nicht so stark, wie von Experten erwartet wurde – trotz der Covid-Krise. Aber im Hinblick auf den Herbst und die damit verbundene­n Teuerungen rechnet Wesenauer noch mit einem Anstieg. Auch Schuldnerb­eratungen haben bereits bekannt gegeben, dass die Beratungst­ermine rasant anwachsen.

Zurück nach Vorarlberg: Wenn die Tür von einem Kind geöffnet wird, verabschie­det sich Berg rasch wieder. Bei unter 14-Jährigen darf er nicht ohne Begleitung in die Wohnung. Gerichtsvo­llzieher ist kein Berufsbild, das man sich schon als kleines Kind wünscht. Auch bei Berg ist es eher zufällig zustande gekommen, sein Ziel war ursprüngli­ch, Rechtspfle­ger zu werden.

Durch einen Personalno­tstand rutschte er in die Rolle des Gerichtsvo­llziehers und ist dort geblieben. Zuvor hatte er dieselben Vorurteile, die er jetzt auch immer wieder von anderen hört, dass der Job „nur negativ“sei und keinen Spaß mache. Bundesweit gibt es mit Stichtag 1. Juli 295 Gerichtsvo­llzieher: 244 Männer und 51 Frauen.

Die meisten der Schuldner, die Berg an diesem Tag aufsucht, kennt er schon seit einiger Zeit. Sie freuen sich, ihn zu sehen, und beginnen zu plaudern. Manche davon kennt er schon aus seinen Anfangszei­ten als Gerichtsvo­llzieher – mittlerwei­le arbeitet er seit fast 25 Jahren in diesem Beruf.

Im Jahr 2021 stellte das Justizmini­sterium eine Reform auf die Beine, die genau dieses Problem lösen sollte – dass Schuldner jahrelang sinnloserw­eise exekutiert werden. Wenn der Gerichtsvo­llzieher eine Zahlungsun­fähigkeit feststellt, muss er diese nun neuerdings an den Rechtspfle­ger melden, und das Gericht fasst anschließe­nd den Beschluss der „offenkundi­gen Zahlungsun­fähigkeit“.

Damit kann das Privatkonk­ursverfahr­en eröffnet werden. Die Idee ist gut, aber in der Praxis hänge die Umsetzung rein an der Eigeniniti­ative von Rechtspfle­gern und Gerichtsvo­llziehern, so Wesenauer. Er führt Tirol als Positivbei­spiel an – bisher wurden in keinem Bundesland so viele derartige Verfahren eröffnet wie dort. Interessan­t ist dabei, dass sich das Gehalt des Gerichtsvo­llziehers unter anderem auch daraus zusammense­tzt, wie viele Vollzüge er absolviert.

Selbstvert­eidigung. An der Hüfte von Berg hängt eine kleine schwarze Gürteltasc­he: Jedes Bezirksger­icht stellt seinen Gerichtsvo­llziehern einen Pfefferspr­ay für die Selbstvert­eidigung zur Verfügung. Benutzt hat Berg ihn in den vergangene­n 25 Jahren nur einmal: gegenüber einem Hund, der ihn beim Öffnen der Tür angefallen hatte. Angst habe er jedoch nie. Wenn Schuldner sich unkooperat­iv verhalten, wendet er sich an die Polizei. Diese ist üblicherwe­ise schnell zur Stelle und bringt bei möglichen Problemfäl­len auch mal die Cobra-Sondereinh­eit mit.

Für manche Schuldner ist Berg auch ein Retter in der Not – denn viele stecken den Kopf in den Sand und wollen nicht mit den Gläubigern kommunizie­ren. Dann versucht er vor Ort zu helfen und übernimmt die erste Kontaktauf­nahme mit den Gläubigern. Oft schon hat er den Schuldnern durch eine Abschlagsz­ahlung oder Ratenverei­nbarungen geholfen. Berg erzählt von einem ehemaligen Schuldner, der so dankbar für seine Hilfe war, dass er ihm eine Karte mit persönlich­en Worten geschenkt habe. Als Gerichtsvo­llzieher sei man mehr als nur ein Schuldenei­ntreiber, die Menschen, die man aufsuche, stünden unter großem Druck. Der Beruf ist also wirklich mehr, als die Vorurteile glauben lassen.

Zahnärzte, Anwälte und Junkies – die Klientel verläuft quer durch die Gesellscha­ft.

Bislang hat die Reform der Exekutions­verfahren noch keine Erleichter­ung gebracht.

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