Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben
Nissan hatte mit dem Leaf das erste Elektroauto aus Massenproduktion auf dem Markt – doch der Pionier blieb den erhofften Erfolg schuldig. Ein neues, höherpreisiges Elektro-SUV soll den Geschmack nun besser treffen.
Schon merkwürdig: Vor wenigen Tagen präsentierte Nissan mit feierlichem Rummel sein neues Elektroauto, das zweite der Marke, ein preislich gehobenes und feist-luxuriöses SUV namens Ariya. Und erwähnt mit keinem Wort den berühmten Erstling – den Nissan Leaf, das weltweit erste Elektroauto aus Massenproduktion und über Jahre hinweg auch meistverkaufte.
Als der Leaf in den Schauräumen stand, kannte Tesla, mit nur einem windigen Zweisitzer im Angebot, noch kaum ein Mensch. Das unterlassene Hochleben des tapferen Pioniers liegt wohl an dem schwierigen Verhältnis, das die Marke zu dem Auto hat. Sie sucht den Neubeginn.
Denn einerseits wäre Nissan am Leaf fast zugrunde gegangen. Andrerseits hätte das Modell die Marke auch in lichte Höhen transportieren können, dorthin ungefähr, wo Tesla heute als mit Abstand wertvollster Autohersteller der Welt rangiert. Wer will schon gern an verpasste Chancen erinnern?
Diese Einschätzung vom Potenzial des Modells gab vor wenigen Tagen der englische Branchen-Veteran Andy Palmer kund. Zuletzt CEO von Aston Martin, verantwortete der Manager damals bei Nissan die Entwicklung des Leaf.
Automanager, bei Nissan für die Entwicklung des Leaf verantwortlich
„Es gab eine klare Elektro-Strategie für die Marke, mit einer ganzen Reihe von Modellen in der Pipeline. Wäre man dabei geblieben“, erklärte Palmer, „könnte Nissan heute ähnlich hoch bewertet sein wie Tesla.“
Timing. Aber es ist eben anders gekommen. Wie so oft hat es mit Timing zu tun. Und mit dem langen Atem, den Pioniere brauchen, um am Ende nicht bloß als Fußnote der Geschichte dazustehen.
Der Vergleich wirft auch ein Licht auf die Möglichkeiten eines Autokonzerns, der „old auto“zugerechnet wird – wie Nissan, wo man bald 90-Jahr-Jubiläum feiert –, und eines Greenhorns wie Tesla, wo man mit nicht mehr als einem weißen Blatt Papier und einer Handvoll enthusiastischer Mitstreiter in die Schlacht zog. Tesla wird demnächst 20, hat aber erst seit zehn Jahren ein Auto auf dem Markt, das für relevante Stückzahlen gut ist.
Teslas Aktionäre rührte es 15 Jahre nicht, dass Jahr für Jahr Milliardenverluste hinzunehmen waren. Sie teilten die Vision des Steuermanns; Elon Musk kapitalisiert sein Unternehmen stets mühelos über die Börse. Und der Zug ist mittlerweile sogar in die Gewinnzone eingerauscht.
Als der Leaf in den Schauräumen stand, kannte Tesla noch kaum ein Mensch. » Der Leaf hat nicht bloß Geld verloren – er hat nicht einmal die Materialkosten hereingespielt. « ANDY PALMER
Kalte Füße. Auch bei Nissan hätte die Zukunft mit „electro only“richtig groß werden können. Vor allem aber stand sie zeitweise auf der Kippe. Da sind kalte Füße in der Managementebene ein erklärbares Phänomen.
Zunächst aber waren alle Zutaten für einen Coup vorhanden. Nissan hatte mit Carlos Ghosn einen Visionär am Ruder. Der aus dem
Libanon stammende Manager war 1999 von Renault
nach Japan entsandt worden, um das von den Franzosen übernommene, tief in der Krise steckende Unternehmen wieder flott zu machen.
Ghosn sanierte in Rekordzeit – und ohne brutale Maßnahmen, was ihn in Japan zum Volkshelden machte. Bei Nissan sowieso. Er hatte auch eine klare Vorstellung, wie es weitergehen sollte. „Die Zukunft ist elektrisch“, sagte Carlos Ghosn, lang bevor Elon Musk mit der Botschaft ins Scheinwerferlicht gefunden hatte.
Gegen-Prius. Tatsächlich suchte Ghosn nach einer Innovation, um dem direkten Konkurrenten Toyota und dem in den USA so erfolgreichen Prius etwas entgegensetzen zu können. Statt ebenfalls in Hybridtechnologie zu investieren, sah Ghosn im Batterie-elektrischen Auto den smarten Abkürzer, um Toyota zu überholen.
Erfahrung mit Elektroantrieb hatten nahezu alle japanischen Hersteller, nachdem man sich im Land schon frühzeitig nach Alternativen umgesehen hatte – wegen des Smogs in den Städten, vor allem aber wegen der 100-prozentigen Abhängigkeit von importiertem Erdöl. Nissans Versuche mit der Technologie reichen bis in die 1960er-Jahre zurück.
Ghosn fand ausreichend Know-how vor, um einen Start zu wagen – musste dafür aber Milliarden investieren. „Wir gehen das nicht kurzfristig an“, erklärte er 2012. „Wir haben einen Langzeitplan“. Das Netzwerk der Leaf-Produktion umfasst mit Japan, England und den USA drei Kontinente. Völlig neue Produktionsmethoden waren notwendig, und weil man für die geplanten Stückzahlen gar nicht genug Batterien hätte zukaufen können, wurde eine eigene Zellfertigung errichtet.
120 km Reichweite. Das machte den Energiespeicher aber auch nicht billiger.