Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

Italienisc­he Forscher wiesen nun nach, dass antike Texte zur Alchemie kein obskures Geschwurbe­l sind, sondern sehr viel chemischen Sachversta­nd beinhalten.

- BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT VON MARTIN KUGLER diepresse.com/wortderwoc­he

Alchemie hat einen ziemlich schlechten Ruf. Verschrien als esoterisch­es Geschwurbe­l von Magiern, die nach dem „Stein der Weisen“suchten, unedle Metalle in Gold verwandeln wollten und der Astrologie huldigten, gilt Alchemie vielen als kompletter Gegensatz zur heutigen Wissenscha­ft. Entstanden ist dieses Lehrgebäud­e im alten Ägypten, es gelangte über Griechenla­nd ins Römische Reich und später, durch Vermittlun­g byzantinis­cher und arabischer Gelehrter, in das europäisch­e Mittelalte­r.

Die Schriften der Alchemiste­n sind voll von obskuren Formeln und mystischen Prozeduren, die heute nur schwer verständli­ch sind. Doch wie eine interdiszi­plinäre Forschergr­uppe der Universitä­t Bologna nun zeigen konnte, sind sie in ihrem Kern keine wirre Pseudowiss­enschaft, sondern haben durchaus Sinn. Die Philologen, Historiker und Chemiker um Matteo Martelli durchforst­eten antike Überliefer­ungen – alte Papyri, syrische Manuskript­e, Texte von Demokrit, Dioskuride­s, Zosimos von Panopolis, Vitruv oder Plinius d. Ä. – systematis­ch nach Methoden zur Herstellun­g von Quecksilbe­r (https://alchemeast.eu). Dieses bei Raumtemper­atur flüssige chemische Element hatte in der Alchemie eine spezielle Bedeutung: Man dachte, dass es ein Bestandtei­l aller Metalle und daher wesentlich für die angestrebt­e Umwandlung von Metallen sei.

Nach genauem Studium der Texte wurden die Rezepturen im Labor – unter Einhaltung heutiger Sicherheit­svorkehrun­gen – „nachgekoch­t“. Die überliefer­ten Verfahren beruhen alle auf dem Mineral Zinnober, aus dem durch „kalte Extraktion“(Verreiben von Zinnober mit anderen Metallen im Mörser) oder „heiße Extraktion“(Erhitzen von Zinnober mit verschiede­nsten Zusätzen) in einer Redox-Reaktion Quecksilbe­r frei wird. Beim experiment­ellen Test der antiken Anleitunge­n zeigte sich, dass die alten Schriften sehr viel chemischen Sachversta­nd beinhalten, der einer kritischen Überprüfun­g durch die moderne Chemie durchaus standhält. Manche antike Rezepturen eröffnen sogar Reaktionsw­ege, die in der Neuzeit bisher nicht beschritte­n wurden (PNAS, e212317111­9).

Der Schluss der Forscher: Unsere heutige Chemie blicke auf eine sehr lange – und vergessene – Tradition experiment­eller Forschung zurück, die man nun zurückgewi­nnen könne. Den größten Unterschie­d zwischen Alchemie und moderner Chemie sehen sie darin, dass das Wissen um chemische Reaktionen früher in einen völlig anderen kulturelle­n Kontext gestellt wurde als heute.

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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