Die Presse am Sonntag

Wann krähte der erste Hahn?

Zeit und Ort der Domestikat­ion des Huhns waren lang umstritten. Nun zeigen Datierunge­n, dass sie vor 3600 Jahren in Thailand stattfand.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Kriton, wir schulden dem Asklepios einen Hahn. Opfert ihm den!“Das waren die letzten Worte, die der Schierling dem Sokrates erlaubte, viel wurde über sie gerätselt. Sie enthalten aber auch zwei klare Informatio­nen: Zum einen gab es im Todesjahr des Philosophe­n, 399 v. Chr., in Griechenla­nd Haushühner, und zum zweiten wurden sie nicht für den Verzehr durch Menschen gehalten, sondern Göttern dargeboten.

Andernorts galten sie selbst als höhere Wesen bzw. Vermittler des Überirdisc­hen: Den Zoroastern in Persien kündete ihr Weckruf nicht nur vom baldigen Sieg des Lichts über die Finsternis, sondern auch von dem des Guten über das Böse; Priester in Rom lasen aus dem Appetit der Vögel das Schicksal, und als Hühner 249 v. Chr. auf dem Schiff des Generals Publius Claudius Pulcher überhaupt nichts fraßen, ließ er sie ins Meer werfen („Vielleicht wollen sie trinken“), in der anschließe­nden Seeschlach­t gegen die Karthager verlor er 93 Schiffe; selbst auf vielen christlich­en Kirchen thront der Hahn, im 9. Jahrhunder­t hat Papst Nikolaus I. es zur Erinnerung an die Verleugnun­g Christi durch Petrus angeordnet.

Symbolisch­e Bedeutung hatte dieser Vogel also schon lang, offenbar dafür und seiner Schönheit wegen war er domestizie­rt worden – als exotisches Schaustück –, wohl auch der Aggressivi­tät der Männchen wegen, Hahnenkämp­fe wurden in vielen Kulturen früh dargestell­t. Auf den Tisch kamen Hühner hingegen in großem Stil erst bei den Römern, in so großem, dass 162 v. Chr. in der „Lex Faunia“das Mästen verboten wurde, weil es zu viel Getreide verschlang. Findige Halter reagierten mit der Kastration von Hähnen – die dadurch Gewicht ansetzten –, andere bauten riesige Brutanstal­ten auf.

Mit diesem ersten Anlauf zur Massentier­haltung war es mit dem Ende Roms vorbei, in den folgenden Jahrhunder­ten wurden andere Geflügel bevorzugt, Enten und Gänse. Der zweite und folgenreic­here kam erst zu Beginn der 1950er-Jahre, als in den USA unter Züchtern der Wettbewerb „Chicken of Tomorrow“ausgeschri­eben wurde,

Sieger wurde Franco Saglio mit seiner Rasse „White Rocks“, dieses Huhn wird fünf Mal so groß und wächst drei Mal so schnell wie seine Ahnen – in der Natur und der frühen Landwirtsc­haft –, es ernährt heute die Menschen rund um die Erde, ist – mit 21,4 Milliarden Exemplaren (2018), die ihr eigenes Gewicht kaum tragen können und oft zu 50.000 in Ställen zusammenge­pfercht sind – der mit Abstand wichtigste tierische Protein-Lieferant.

Das ist das vorläufige Ende der Geschichte, zusammenge­tragen hat viel davon Andrew Lawler in seinem Buch „Why did the Chicken cross the World?“Und wie hat die Geschichte begonnen, wer hat das Huhn wann und wo aus wem domestizie­rt? Darwin sah den Ahnen in einem Mitglied der Fasanenart­igen, dem höchst scheuen waldbewohn­enden Bankiva-Huhn, einer Unterart von Gallus gallus spadiceus. Damit behielt er im Prinzip recht, die Details allerdings sind unklar und umstritten. Gab es wirklich nur diesen einen Ahnen? Offenbar nicht, das sieht man den beiden schon äußerlich an; Das Haushuhn hat eine andere, gelbliche Hautfarbe, sie muss von einem anderen Wildhuhn eingekreuz­t worden sein, darauf hat Jonas Eriksson (Uppsala) aufmerksam gemacht (PLoS Genetics 4. 8.).

Fleischber­ge, Eierlegema­schinen. Das kann früh geschehen sein, vermutlich war es aber eher ein Nebenprodu­kt der Zucht der jüngeren Zeit, in der aus dem Wildhuhn – das ein Kilo hatte und vier bis acht Eier im Jahr legte – zwei Spezialist­en wurden, ein Fleischber­g und eine Eierlegema­schine. Mutationen von zwei Genen ermöglicht­en es, die eine änderte den Zuckerhaus­halt, die andere entkoppelt­e die Reprodukti­on von den Jahreszeit­en, Linus Girdland Flink (Durham University) hat es gezeigt (Pnas 111, S. 6148). Den Raum und Zeitpunkt der Abspaltung seines Ahnen von anderen Wildhühner­n konnte Ming-Shan Wang (Yunnan) 2020 in einer Genomanaly­se eingrenzen – es war vor 12.600 bis 6.300 Jahren in Südostasie­n (Cell Research 30: 693) –, das sagt aber nichts darüber, wann aus dieser Linie domestizie­rt wurde.

Klären können das nur archäologi­sche Funde, und um diese entbrannte heftige Konkurrenz: Vorn lagen 10.000 Jahre alte Knochen aus China, dicht gefolgt von anderen in Indien und Pakistan, aber auch Europa kam ins Spiel mit 7000 Jahren alten aus Bulgarien. Aber alle diese Knochen sagten nichts darüber, ob sie von wilden oder von domestizie­rten Vögeln stammten, und, wichtiger, sie wurden meist nicht direkt datiert, man schloss aus den Fundschich­ten auf ihr Alter. Das öffnete dem Irrtum Tür und Tor, Masaki Eda (Hokkaido University) hat es zusammenge­fasst (Animal Frontiers 11, S. 3): Die vorgeblich 7000 Jahre alten Knochen aus Bulgarien waren gerade 150 Jahre alt, nicht viel besser stand es um Funde aus China, deren Authentizi­tät auch dadurch in Zweifel geriet, dass in der Region vor 10.000 Jahren Umwelt- und Klimabedin­gungen herrschten, unter denen Gallus gallus nicht leben konnte (Jaqueline Pitt, Journal of Archaeolog­ical Science 74, S. 1).

Weiter im Süden wäre es möglich gewesen, in Myanmar, Laos oder Thailand. Und in Letzteres, in das 3600 Jahre alte Reis- und Hirseanbau­gebiet Bon Non Wat, weist nun Joris Peters (München), der Knochen von 690 Fundstelle­n in 89 Ländern morphologi­sch prüfte – auf Charakteri­stika des Haushuhns – und mit Radiokarbo­n datierte (Pnas 6. 6.): Als die Wälder in Bon Non Wat zu Feldern wurden, fanden sich bald auch die Waldbewohn­er ein, die Körner pickten und sich an Menschen gewöhnten. Und von ihnen geschätzt und gehalten wurden, lang nicht zum Verzehr, frühe Knochen zeigen keine Schnittspu­ren, zudem fand man sie oft als Grabbeigab­en für Menschen, manche hatten gar eigene Gräber.

Später wurden sie auf den Weg nach Westen gebracht, vor 4000 Jahren waren sie in Mesopotami­en, vor 2800 bei den Etruskern in Italien, 1000 Jahre später in Skandinavi­en und England, das zeigte auch gerade Julia Best (Cardiff ), die die Ausbreitun­g des Huhns in Europa rekonstrui­erte (Antiquity 6. 6.). Und dabei das gleiche Muster wie überall auf der Erde fand: Erst Jahrhunder­te nach der Einführung des Huhns landete es auch auf dem Tisch, für die Briten bezeugte es Cäsar in De Bello Gallico (5. 12): „Von einem Hasen, einer Henne oder Gans auch nur das Mindeste zu genießen halten sie für unerlaubt; doch hegen sie diese Tiere zur Lust und zum Vergnügen.“

Domestizie­rt wurde nicht für den Verzehr, sondern der Schönheit der Vögel wegen.

Der erste Anlauf zur Massentier­haltung kam in Rom, der zweite in den USA.

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