DIE BÜCHER
75 Jahre »Wir Kinder aus Bullerbü«: Lindgrens Idylle prägte das Bild der paradiesischen Kindheit wie kein Buch seitdem, heute entgleitet sie uns: Es ist keine Zeit für heile Welten.
Jeder lebte schon immer im Paradies, hat es nur nicht gewusst“: So kommentierte Janosch einmal sein berühmtes Kinderbuch „Oh, wie schön ist Panama“. Da ziehen Bär und Tiger aus, um ihr Traumland Panama zu finden. Nur um am Ende wieder bei sich zu Hause anzulangen und zu merken: Sie waren ja schon immer am schönsten Ort der Welt.
„Mir tun alle leid, die nicht in Bullerbü leben“, sagt Inga in einem von Astrid Lindgrens drei Bullerbü-Bänden. Die Kinder darin müssen nicht suchen, sie sind von Anfang an im Paradies – und wissen es auch. Ein winziges Dorf, drei Bauernhöfe, sechs Kinder: Lisa, Inga, Britta, Lasse, Bosse, Ole. Im Hintergrund arbeiten Eltern ruhig im Haus und auf dem Feld, immer liebevoll, wenn man sie doch einmal braucht. Und die Kinder brauchen nur eins zu tun: barfuß draußen spielen, Gänge durchs Heu graben, auf Zäunen balancieren, eine Rattenfarm anlegen, ein Lämmchen füttern. Wunderbare kleine Besonderheiten in einem vom Rhythmus der Jahreszeiten, wiederkehrenden Arbeiten und Festen bestimmten Leben. Diese perfekte Balance von Natur und Zivilisation, Freiheit und Geborgenheit wird uns von der siebenjährigen Lisa vorgestellt, als wäre all das gerade jetzt vor unserer Nase: „Stellt euch mal vor . . .“, heißt es da immer wieder, und „Nein, war das schön!“, kurz: „Oh, wie haben wir es schön in Bullerbü!“
Es hilft aber alles nichts. Sie gleitet uns davon, diese Lisa mit ihrem „Lärmdorf“(das heißt Bullerbü wörtlich), die zum ersten Mal vor 75 Jahren, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, hinter Buchdeckeln zum Vorschein gekommen ist. Es ist nicht nur der Stil. Es ist auch die heile Welt, die uns entgleitet.
Die drei Bullerbü-Bände haben in unseren Breiten wie kein anderes Buch seit der Nachkriegszeit die Vorstellung vom Kindheitsparadies verkörpert. „Wo liegt Bullerbü?“, war eine der häufigsten Kinderfragen an Astrid Lindgren. Die Germanistin Weertje Willms befragte deutsche 20- bis 80-Jährige, welches Kinderbuch sie mit idealer Lebenswelt assoziieren: „Wir Kinder aus Bullerbü“wurde am meisten genannt. Vor allem, aber nicht nur von Älteren.
Das Bullerbü-Syndrom. Diese Vorstellung von schwedischer Idylle, gerade im deutschsprachigen Raum, hat sogar einen Namen bekommen: BullerbüSyndrom. Als „Bullerbysyndromet“nahm es der schwedische Sprachrat in den dortigen Wortschatz auf. Sogar in Politikervisionen findet es sich wieder. „Nichts ist schlecht an Bullerbü“, befand etwa der deutsche Grünen-Politiker Robert Habeck 2013. Da müssten ja auch „die Hecken nicht in den rechten Winkel geschnitten werden, das Haus darf ein bisschen windschief sein, und es dürfen auch ein paar Würmer in den Äpfeln leben“. Doch dieses BullerbüSyndrom wurde auch kritisch gesehen, als „Bullerbü-Komplex“: So bezeichnete der deutsche Psychologe Lars Mandelkow die Tendenz von Eltern, geprägt von diesem Idealbild, einer heilen Welt für ihre Kinder nachzujagen. Woran sie nur „grandios scheitern“könnten.
Wirken konnte diese Idylle nur, weil sie so natürlich und glaubhaft wirkte; weil für Lindgren selbst darin so viel erlebte, glückliche Kindheitswirklichkeit war. Sie wuchs auf einem Hof in Sma˚land auf. Nahe davon lag das winzige Sevedstorp, von wo die Familie des Vaters stammte. Es ist das Vorbild für das Drei-Häuser-Dorf Bullerbü. Nur in einigem ist Bullerbü ein Gegensatz zur zwei Jahre davor erschienenen Welt von Pippi Langstrumpf, es gibt auch viel Verbindendes: etwa die für damalige Verhältnisse ungewöhnliche, selbstbewusste, kindliche Erzählperspektive; oder dass die Mädchen erfolgreich dagegen rebellieren, dass sie Sachen nicht dürfen, die die Buben dürfen.
Erlebt von Lindgren während des Ersten Weltkriegs, in Buchform gegossen
„Wir Kinder aus Bullerbü“
erschien 1947. Astrid Lindgren war damals 40 Jahre alt. Bereits zwei Jahre davor war „Pippi Langstrumpf“erschienen.
„Mehr von uns Kindern aus Bullerbü“und „Immer lustig in Bullerbü“
folgten
1949 bzw. 1952. Dazu kamen drei in Bullerbü angesiedelte Bilderbücher.
Für die TV-Serie,
die 1960 in Schweden herauskam, schrieb Astrid Lindgren selbst das Drehbuch.
Der mehrfach Oscarnominierte
schwedische Regisseur Lasse Hallström machte schließlich aus dem Stoff 1986 und 1987 zwei Spielfilme.
Sevedstorp,
das DreiHäuser-Dorf, in dem Lindgrens Vater aufwuchs, war das Vorbild für Lindgrens Bullerbü. Es diente auch als Kulisse für Hallströms Filme. nach dem Zweiten, blendete die Idylle wie jede sehr vieles aus – inklusive der „großen Welt“außerhalb. Diese steckt natürlich trotzdem darin, oft intensiv in den kleinsten Details. Etwa im typischen Rot der Holzhäuser, das sich auf Lindgrens Geburtshaus oder in den Bullerbü-Filmen findet. Es wird auch Falunrot genannt – nach dem Kupferbergwerk, das jahrhundertelang schwerste, gefährliche Arbeit (und viele Menschen durch Einstürze und Schadstoffe ums Leben) brachte.
„Heidi“passt eher ins Heute. Ein anderes Beispiel: Lasse, der älteste Bub in Bullerbü, ist von Lindgrens Bruder Gunnar inspiriert – der in den Jahren vor der Entstehung der Bücher Sprecher der Jugendorganisation der Bauernpartei gewesen ist. Sie propagierte unter den größeren Parteien am meisten „die Bewahrung des schwedischen Volksstammes vor der Vermischung mit minderwertigen ausländischen Rasseelementen“. Auch das gehörte damals zum ländlichen Leben.
Bullerbü: Die perfekte Balance von Natur und Zivilisation, Freiheit und Geborgenheit.
Idylle erfordert den Willen, viel von sich fernzuhalten – aber auch die Möglichkeit dazu.
Heutige Kinderbücher schenken uns vieles. Aber eine glaubhafte „heile Welt“, noch dazu angesiedelt in realistischem Setting? Das scheint, außer für die ganz Kleinen, derzeit kaum möglich. Und während Bullerbü in die Ferne rückt, kommen dafür Kinderbücher aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vielleicht wieder näher – von „Heidi“über „Der Wind in den Weiden“bis zum „Dschungelbuch“: Bücher voller Sorge über das Auseinanderfallen von Mensch und Natur.
Die Sehnsucht nach Idylle mag noch so groß sein: Zuflucht darin muss man nicht nur finden wollen, sondern auch können, indem man vieles nicht sieht, vieles von sich fernhalten kann. Unsere Gegenwart ist eindeutig nicht die Zeit für Bullerbü.