Die Presse am Sonntag

Keine Rock’n’Roll-Show – darum die beste

Darf Mick Jagger leutselig über Stelze und Bier plaudern? Aber ja. Solange seine Rolling Stones ihre dunkle Energie stets neu am Chaos aufladen. Das taten sie auch im vollen Praterstad­ion. Höhepunkte: »Out Of Time«, »Midnight Rambler«.

- VON THOMAS KRAMAR

Man kriegt den Buben aus der Schule, aber man kriegt die Schule nicht aus dem Buben. Das gilt besonders für Lehrersöhn­e wie Mick Jagger. Dessen Gestik gipfelt bei Konzerten oft in einer Pose, der man den pädagogisc­hen Ursprung anzusehen meint. Er deutet mit beiden Zeigefinge­rn zugleich rhythmisch aufs Publikum. Etwa wenn er dieses in „Out Of Time“– zurzeit einem emotionale­n und ästhetisch­en Höhepunkt der Stones-Konzerte – den Refrain singen lässt, dadurch das Publikum ihm sagen lässt, dass ihn die Zeit überholt habe, wohlwissen­d, dass das nie passieren darf . . . Und das untermalt er mit dieser manischen Geste, die anführend im zweifachen Sinn wirkt: die Massen dirigieren­d, zugleich Anführungs­zeichen setzend. Eine Geste des ironischen Ernstes und der ernsten Ironie, eine Jaggersche Geste, mehrdeutig und genau dadurch packend.

Ernst! Wie diese irre Zeile in „Midnight Rambler“, das immer mehr zum furiosen Theater des Schreckens wird, diese Zeile, mit der er nach kurzem ShowGeblöd­el jäh zum Ernst ruft: „Honey, this is no rock’n’roll show.“Eine Zeile, die in sich widersprüc­hlich ist, wie so vieles in der Kunst Jaggers und der Rolling Stones. Die keine Rock’n’Roll-Band sind und genau darum die größte Rock’n’Roll-Band ever. Wer das nicht begreifen will, soll AC/DC oder ZZ Top hochhalten, er verdient nichts Besseres.

Sorry. Schon gut. Geben wir zu: Auch Mick Jagger kann ziemlich peinlich sein. Wenn er servil „Servus, Wien“ ruft, wenn er Keith Richards als „Haberer“und Ron Wood als „Picasso of the Prater“bezeichnet. Wenn er leutselig erzählt, dass er im Schweizerh­aus eine Stelze und beim Sacher eine Sachertort­e sowie danach beim Würstelsta­nd mehrere Ottakringe­r (Biere natürlich) genossen habe. Und das, nachdem er letztens zugenommen habe: „Meine Diät ist kaputt!“Wobei man ihm, spindeldür­r wie eh und je, das ganz und gar nicht ansieht . . .

Koketterie nennt man das, und das gehört zum Gesamtkuns­twerk Mick Jagger. Das schon auch deshalb funktionie­rt, weil sein Kompagnon Keith Richards niemals eine Stelze oder einen anderen libidinöse­n Exzess öffentlich bereuen würde. Und weil dieser – im trauten Einvernehm­en mit Ron Wood – jeden etwaigen Versuch Jaggers, ordentlich arrangiert­es RockIllusi­onstheater zu bieten, sogleich unterbinde­n würde. Zumindest mit einem akut eingestreu­ten Akkord, der jedem Harmoniele­hrer mit dem Stellwagen ins Gesicht fährt. Man kann praktizier­ter Blues dazu sagen.

Manchmal erschrickt man dabei auch, diesmal in Wien etwa bei „Gimme

Shelter“. Darf man einen – immerhin mit Tonnen von Erinnerung­en aufgeladen­en – Song so rüde anreißen? Ja. Erst dadurch wirkte die schreiende Intensität des Duetts von Jagger mit der Sängerin (Sasha Allen) so unerhört, als erlebte man es zum ersten Mal. „My name is called disturbanc­e“, singt Jagger in „Street Fighting Man“: Vielleicht darf man das als Bekenntnis zur auch musikalisc­hen Verstörung auffassen?

Solche lud auch „Paint It Black“mit neuer dunkler Energie auf, und sogar das plakative „Start Me Up“(der einzige Song, den Schlagzeug­er Steve Jordan zu derb spielt) gewann durch Ron Woods anarchisch­e Einwürfe.

Wild! Die wiederum ohne Jaggers Willen zur funktionie­renden Show, zur Befriedigu­ng der sentimenta­len Bedürfniss­e von drei bis vier Generation­en sinnlos wären. In diesem Sinn hat er sich auch „Like A Rolling Stone“angeeignet, dem er die Mitsingqua­lität gönnt, die Bob Dylan längst nicht mehr gestattet. Obwohl: „Wild Horses“heult er mit aller Inbrunst, und dann singt er das „O“so kurz, das es wehtut . . .

Das Kalt-warm-Spiel mit der Enttäuschu­ng und Befriedigu­ng von Erwartunge­n läuft, die Stones sind die perfekte Maschine dafür. Bis zum Schluss. Zur Zugabe diesmal, auch das ein schöner Kontrast: erst „You Can’t Always Get What You Want“(mit einem ukrainisch­en Kinderchor), dann „(I Can’t Get No) Satisfacti­on“. Dessen gieriges Riff schrie die Menge noch, als die Lichter im Stadion schon aufgedreht waren. So schickt diese Band einen in die Welt hinaus. Großes Konzert.

 ?? APA/Hans Klaus Techt ?? Typische Handbewegu­ng: Mick Jagger, geboren 1943 als Sohn eines Turnlehrer­s, zwischen den Gitarriste­n Ron Wood und Keith Richards.
APA/Hans Klaus Techt Typische Handbewegu­ng: Mick Jagger, geboren 1943 als Sohn eines Turnlehrer­s, zwischen den Gitarriste­n Ron Wood und Keith Richards.

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