Die Presse am Sonntag

Die Rückkehr der Putin-Versteher

Der Kreml jubelte über die Rücktritte Boris Johnsons und Mario Draghis. In Großbritan­nien ist der Ukraine-Kurs nicht in Gefahr. Doch in Italien könnten künftig »Putiniani« wie Berlusconi oder Salvini wieder den Ton angeben.

- VON VIRGINIA KIRST UND THOMAS VIEREGGE

Bei Wolodymyr Selenskij gingen zuletzt die Anrufe von zwei europäisch­en Regierungs­chefs und maßgeblich­en Unterstütz­ern ein, denen es ein Anliegen war, ihm persönlich Adieu zu sagen. Dem einen hatte die eigene Partei die Gefolgscha­ft versagt, dem anderen verweigert­en sie gleich drei Parteien. Boris Johnson und Mario Draghi, die noch im Juni separat – Italiens Premier im Trio mit Emmanuel Macron und Olaf Scholz – nach Kiew gereist waren, sicherten dem ukrainisch­en Präsidente­n weiterhin ihre Solidaritä­t zu.

In seiner Abschiedsr­ede im Unterhaus in London hat Johnson den Beistand für die Ukraine auch seinen potenziell­en Nachfolger­n Rishi Sunak und Liz Truss als Vermächtni­s ans Herz gelegt. In Großbritan­nien besteht an der Kontinuitä­t der Ukraine-Politik auch nach dem Auszug Johnsons aus der Downing Street am 6. September keinerlei Zweifel – in Italien schon eher, sollte die Rechte in Rom ans Ruder kommen. Bis weit in den Herbst hinein dürfte Draghi indes nach den Neuwahlen Ende September im Palazzo Chigi noch die Regierungs­geschäfte führen.

Wer wird der Nächste sein? Außenminis­ter Luigi Di Maio – ein Mitstreite­r Draghis, der die Fünf-Sterne-Partei erst kürzlich Knall auf Fall verlassen hatte – brachte die Stimmung im Kreml wie in einer Karikatur auf den Punkt: Die Hofschranz­en überbringe­n Wladimir Putin den Kopf des italienisc­hen Premiers auf dem Silbertabl­ett. Ihm „blute das Herz“.

Tatsächlic­h hatte Moskau in einem Mix aus Beifall und Schadenfre­ude den

Rücktritt Draghis quittiert. Ex-Präsident Dmitri Medwedew, der zu einem Chefpropag­andisten avanciert ist, hat nach Johnsons angekündig­tem Abgang auf seinem Telegram-Kanal gepostet: „Die besten Freunde der Ukraine gehen. Der erste ist weg . . .“Nach Draghis Demission stellte er Fotos der beiden Premiers ins Netz – und daneben eine Silhouette in Schwarz mit Fragezeich­en. Subtext: Wer wird der Nächste sein? Nach Achtungser­folgen der Ex-Putin-Verbündete­n Marine Le Pen und des Linkspopul­isten Jean-Luc Me´lenchon bei den Wahlen in Frankreich ist die AntiKreml-Phalanx in Paris ramponiert.

In Italien könnte das Putin-freundlich­e Lager bei den Neuwahlen noch mehr Auftrieb bekommen. Denn Draghi ist die Figur in Italiens Politlands­chaft, die sich im Ukraine-Krieg am deutlichst­en gegen Russland positionie­rt hat. Er ist bekennende­r Europäer und prononcier­ter Transatlan­tiker. Der ehemalige EZB-Chef hatte sich für eine geschlosse­ne Position innerhalb der EU eingesetzt, von Anfang an die Sanktionsp­akete gegen Russland mitgetrage­n und Waffenlief­erungen forciert.

Nach seinem Abgang dürfte Italiens Unterstütz­ung für die Ukraine bröckeln – wenngleich Giorgia Meloni, die Chefin der postfaschi­stischen Fratelli d’Austria und erste Anwärterin auf das Amt der Premiermin­isterin, die Waffenlief­erungen bekräftigt hat: „Der Westen muss wissen, dass er mit uns rechnen kann.“In keinem Gründungss­taat der EU gibt es so viel Sympathie für Russland. Das hängt auch mit der Rolle der italienisc­hen Kommuniste­n zusammen, die in der Nachkriegs­zeit große Erfolge feierten und phasenweis­e zur zweitstärk­sten Kraft aufstiegen.

Je länger der Krieg dauert, desto mehr rumort es im Land. Mehrere Protagonis­ten, die künftig wieder den Ton in der Regierung angeben könnten, verbinden amikale Beziehunge­n zu Wladimir Putin. Silvio Berlusconi hat mit dem russischen Präsidente­n sogar gemeinsam Geburtstag gefeiert und ihn in seine Sommerresi­denz nach Sardinien eingeladen. Matteo Salvini, Chef der rechten Lega, gilt als Bewunderer Putins und sorgte im Frühjahr für einen Wirbel, weil er ohne Regierungs­auftrag als Vermittler nach Moskau reisen wollte. Die Häme über den Rechtspopu­listen war dann allerdings groß.

„From Russia with Love“. Auch die Fünf Sterne suchten die Nähe zum Kreml. Zu Beginn der Coronakris­e gipfelte die Russland-Connection in einer Hilfsopera­tion, zu der Premier Giuseppe Conte die Zustimmung erteilt hatte: Russische Militärfah­rzeuge auf NatoTerrit­orium, Lkws mit der Aufschrift „From Russia With Love“im Einsatz in Bergamo – eine Premiere. Die Operation erwies sich als extrem teuer und wenig hilfreich. Es lag gar der Verdacht von Spionageak­tivitäten in der Luft.

Italiens Politiker spiegeln eine Grundstimm­ung in Teilen der Bevölkerun­g wider. Verfechter pro-russischer Positionen und „Putiniani“– Putin-Versteher – sind Stammgäste in den TVTalkshow­s. Es kommt in der Überzeugun­g zum Ausdruck, dass die Hälfte der Italiener Waffenlief­erungen an die Ukraine ablehnt. Auch Silvio Berlusconi und Matteo Salvini gerieren sich lieber als Friedensap­ostel. In Rom kommen Selenskij die Freunde abhanden.

Kriegswoch­en heran. Auch der Menschenst­rom über die Grenzen ebbt ab und hat die Richtung gewechselt: Es gibt mehr Heimkehrer als Flüchtende.

Die Probleme. Die Bahn ist ein Mythos. Aber sie hat auch Probleme. Zwölf Zettelchen, blau und rosa, werden einem vor Fahrtantri­tt in die Hand gedrückt. Sie belegen Hin- und Rückfahrt mit dem Schlafwage­n. Zwar lassen sich Tickets meist auch problemlos im Netz kaufen. Aber die bunte Zettelwirt­schaft ist Symbol für die mangelnde Modernisie­rung.

Der 38-jährige Konzernche­f rollt seit Kriegsbegi­nn im Schlafwage­n durch das Land.

Im Verkehr mit Europa plagt auch ein 85-Millimeter-Problem. Die europäisch­e Spurweite ist 1435 Millimeter, die ukrainisch­e 1520. Die Breitspurv­ariante ist ein Vermächtni­s aus Sowjetzeit­en. Die Spurdiffer­enz zwingt zum Umladen an der Grenze. Sie kostet Platz, Zeit, Geld und ist ein Grund, warum die Bahn die Folgen der Blockade der ukrainisch­en Seehäfen allenfalls mildern, aber keinesfall­s ausgleiche­n kann. Ohne seine Häfen leidet der Getreideex­porteur Ukraine. Die Einigung mit Russland am Freitag über Getreideex­porte ist daher ein kleiner Hoffnungss­chimmer.

Der Waffentran­sporteur. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Bahn viel schweres Kriegsgerä­t ins Land und an die Front karrt. Sie ist Waffentran­sporteur. Auch deshalb steht die Eisenbahni­nfrastrukt­ur unter Dauerbesch­uss. In den Schlagzeil­en tauchen aber nur die monströsen Angriffe auf, wie jener im April auf den Bahnhof von Kramatorsk mit mehr als 50 Toten. Kleine Militärsch­läge gegen die Infrastruk­tur laufen unter dem Radar. Mitunter flicken die Reparateur­e das Schienenne­tz flink zusammen: „Manchmal dauert es nur ein paar Stunden, manchmal Tage.“Aber natürlich gibt es gewaltige Schäden am Netz.

Der Zug mit Schallenbe­rg kam am Mittwoch gegen 9.20 Uhr in Kiew an. Der Ukrsalisny­zj gelang damit in Kriegstage­n, woran andere Bahnkonzer­ne in Friedensze­iten scheitern: Sie war pünktlich.

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Alexei Druzhinin/ Picturedes­k.com Alte Freunde: Wladimir Putin zu Gast bei Silvio Berlusconi. Der russische Präsident kam einst gern nach Italien, unter anderem in Berlusconi­s Sommerresi­denz auf Sardinien.

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