Die Rückkehr der Putin-Versteher
Der Kreml jubelte über die Rücktritte Boris Johnsons und Mario Draghis. In Großbritannien ist der Ukraine-Kurs nicht in Gefahr. Doch in Italien könnten künftig »Putiniani« wie Berlusconi oder Salvini wieder den Ton angeben.
Bei Wolodymyr Selenskij gingen zuletzt die Anrufe von zwei europäischen Regierungschefs und maßgeblichen Unterstützern ein, denen es ein Anliegen war, ihm persönlich Adieu zu sagen. Dem einen hatte die eigene Partei die Gefolgschaft versagt, dem anderen verweigerten sie gleich drei Parteien. Boris Johnson und Mario Draghi, die noch im Juni separat – Italiens Premier im Trio mit Emmanuel Macron und Olaf Scholz – nach Kiew gereist waren, sicherten dem ukrainischen Präsidenten weiterhin ihre Solidarität zu.
In seiner Abschiedsrede im Unterhaus in London hat Johnson den Beistand für die Ukraine auch seinen potenziellen Nachfolgern Rishi Sunak und Liz Truss als Vermächtnis ans Herz gelegt. In Großbritannien besteht an der Kontinuität der Ukraine-Politik auch nach dem Auszug Johnsons aus der Downing Street am 6. September keinerlei Zweifel – in Italien schon eher, sollte die Rechte in Rom ans Ruder kommen. Bis weit in den Herbst hinein dürfte Draghi indes nach den Neuwahlen Ende September im Palazzo Chigi noch die Regierungsgeschäfte führen.
Wer wird der Nächste sein? Außenminister Luigi Di Maio – ein Mitstreiter Draghis, der die Fünf-Sterne-Partei erst kürzlich Knall auf Fall verlassen hatte – brachte die Stimmung im Kreml wie in einer Karikatur auf den Punkt: Die Hofschranzen überbringen Wladimir Putin den Kopf des italienischen Premiers auf dem Silbertablett. Ihm „blute das Herz“.
Tatsächlich hatte Moskau in einem Mix aus Beifall und Schadenfreude den
Rücktritt Draghis quittiert. Ex-Präsident Dmitri Medwedew, der zu einem Chefpropagandisten avanciert ist, hat nach Johnsons angekündigtem Abgang auf seinem Telegram-Kanal gepostet: „Die besten Freunde der Ukraine gehen. Der erste ist weg . . .“Nach Draghis Demission stellte er Fotos der beiden Premiers ins Netz – und daneben eine Silhouette in Schwarz mit Fragezeichen. Subtext: Wer wird der Nächste sein? Nach Achtungserfolgen der Ex-Putin-Verbündeten Marine Le Pen und des Linkspopulisten Jean-Luc Me´lenchon bei den Wahlen in Frankreich ist die AntiKreml-Phalanx in Paris ramponiert.
In Italien könnte das Putin-freundliche Lager bei den Neuwahlen noch mehr Auftrieb bekommen. Denn Draghi ist die Figur in Italiens Politlandschaft, die sich im Ukraine-Krieg am deutlichsten gegen Russland positioniert hat. Er ist bekennender Europäer und prononcierter Transatlantiker. Der ehemalige EZB-Chef hatte sich für eine geschlossene Position innerhalb der EU eingesetzt, von Anfang an die Sanktionspakete gegen Russland mitgetragen und Waffenlieferungen forciert.
Nach seinem Abgang dürfte Italiens Unterstützung für die Ukraine bröckeln – wenngleich Giorgia Meloni, die Chefin der postfaschistischen Fratelli d’Austria und erste Anwärterin auf das Amt der Premierministerin, die Waffenlieferungen bekräftigt hat: „Der Westen muss wissen, dass er mit uns rechnen kann.“In keinem Gründungsstaat der EU gibt es so viel Sympathie für Russland. Das hängt auch mit der Rolle der italienischen Kommunisten zusammen, die in der Nachkriegszeit große Erfolge feierten und phasenweise zur zweitstärksten Kraft aufstiegen.
Je länger der Krieg dauert, desto mehr rumort es im Land. Mehrere Protagonisten, die künftig wieder den Ton in der Regierung angeben könnten, verbinden amikale Beziehungen zu Wladimir Putin. Silvio Berlusconi hat mit dem russischen Präsidenten sogar gemeinsam Geburtstag gefeiert und ihn in seine Sommerresidenz nach Sardinien eingeladen. Matteo Salvini, Chef der rechten Lega, gilt als Bewunderer Putins und sorgte im Frühjahr für einen Wirbel, weil er ohne Regierungsauftrag als Vermittler nach Moskau reisen wollte. Die Häme über den Rechtspopulisten war dann allerdings groß.
„From Russia with Love“. Auch die Fünf Sterne suchten die Nähe zum Kreml. Zu Beginn der Coronakrise gipfelte die Russland-Connection in einer Hilfsoperation, zu der Premier Giuseppe Conte die Zustimmung erteilt hatte: Russische Militärfahrzeuge auf NatoTerritorium, Lkws mit der Aufschrift „From Russia With Love“im Einsatz in Bergamo – eine Premiere. Die Operation erwies sich als extrem teuer und wenig hilfreich. Es lag gar der Verdacht von Spionageaktivitäten in der Luft.
Italiens Politiker spiegeln eine Grundstimmung in Teilen der Bevölkerung wider. Verfechter pro-russischer Positionen und „Putiniani“– Putin-Versteher – sind Stammgäste in den TVTalkshows. Es kommt in der Überzeugung zum Ausdruck, dass die Hälfte der Italiener Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnt. Auch Silvio Berlusconi und Matteo Salvini gerieren sich lieber als Friedensapostel. In Rom kommen Selenskij die Freunde abhanden.
Kriegswochen heran. Auch der Menschenstrom über die Grenzen ebbt ab und hat die Richtung gewechselt: Es gibt mehr Heimkehrer als Flüchtende.
Die Probleme. Die Bahn ist ein Mythos. Aber sie hat auch Probleme. Zwölf Zettelchen, blau und rosa, werden einem vor Fahrtantritt in die Hand gedrückt. Sie belegen Hin- und Rückfahrt mit dem Schlafwagen. Zwar lassen sich Tickets meist auch problemlos im Netz kaufen. Aber die bunte Zettelwirtschaft ist Symbol für die mangelnde Modernisierung.
Der 38-jährige Konzernchef rollt seit Kriegsbeginn im Schlafwagen durch das Land.
Im Verkehr mit Europa plagt auch ein 85-Millimeter-Problem. Die europäische Spurweite ist 1435 Millimeter, die ukrainische 1520. Die Breitspurvariante ist ein Vermächtnis aus Sowjetzeiten. Die Spurdifferenz zwingt zum Umladen an der Grenze. Sie kostet Platz, Zeit, Geld und ist ein Grund, warum die Bahn die Folgen der Blockade der ukrainischen Seehäfen allenfalls mildern, aber keinesfalls ausgleichen kann. Ohne seine Häfen leidet der Getreideexporteur Ukraine. Die Einigung mit Russland am Freitag über Getreideexporte ist daher ein kleiner Hoffnungsschimmer.
Der Waffentransporteur. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Bahn viel schweres Kriegsgerät ins Land und an die Front karrt. Sie ist Waffentransporteur. Auch deshalb steht die Eisenbahninfrastruktur unter Dauerbeschuss. In den Schlagzeilen tauchen aber nur die monströsen Angriffe auf, wie jener im April auf den Bahnhof von Kramatorsk mit mehr als 50 Toten. Kleine Militärschläge gegen die Infrastruktur laufen unter dem Radar. Mitunter flicken die Reparateure das Schienennetz flink zusammen: „Manchmal dauert es nur ein paar Stunden, manchmal Tage.“Aber natürlich gibt es gewaltige Schäden am Netz.
Der Zug mit Schallenberg kam am Mittwoch gegen 9.20 Uhr in Kiew an. Der Ukrsalisnyzj gelang damit in Kriegstagen, woran andere Bahnkonzerne in Friedenszeiten scheitern: Sie war pünktlich.