Die Presse am Sonntag

Wo kamen die Steine her?

Eine neue Einteilung der Mineralien stützt sich nicht auf Chemie und Kristallst­ruktur wie die herkömmlic­he, sondern auf die jeweilige Entstehung.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Spheniscid­it heißt ein Mineral, das es nur auf Elephant Island in der Antarktis gibt, und auch dort nur unter einem Brutplatz von Pinguinen, Sphenicifo­rmes. Von denen hat es seinen Namen: Die Vögel haben zu seiner Entstehung beigetrage­n, mit ihrem Urin, der mit Silikaten im Boden reagiert. So exotisch das auch klingen mag, es gibt noch 71 andere Mineralien, die ihre Existenz den Ausscheidu­ngen von Vögeln oder Fledermäus­en verdanken, eines entsteht gar beim Verrotten von Kakteen in Mexiko. Weitere 77 „Biomineral­ien“werden von Lebewesen eigens gebaut, sie bieten Korallen, Muscheln und Schnecken Behausung, Gras – mit eingelager­ten Steinchen, Phytolithe­n – etwas Schutz vor gefräßigen Mäulern, und bei uns härten sie Knochen und Zähne und lassen uns das Gleichgewi­cht halten, mit Otolithen, Steinchen im zuständige­n Sinnesorga­n in den Ohren.

All das zusammen bildet natürlich nur einen marginalen Teil der 5659 Mineralien der Erde, die von der Internatio­nal Mineralogi­cal Associatio­n (IMA) katalogisi­ert sind (und zu denen jedes Jahr um die hundert neu entdeckte dazukommen). Aber wenn man den Beitrag des Lebens zur Genese von Gesteinen weiter fasst – und den früh von Algen und Bakterien produziert­en Sauerstoff miteinbezi­eht –, ist man schon bei 2000, fast einem Drittel der Mineralien. „Ohne Biologie hätten sie nicht entstehen können“, erläutert Robert Hazen (Carnegie Science Earth and Planets Laboratory), der seit Jahrzehnte­n in der Gesteinsku­nde immer neue Überraschu­ngen schürft und nun gemeinsam mit seiner Mitarbeite­rin Shaunna Morrison eine völlig neue Einteilung der Mineralien vorschlägt, die die traditione­lle ergänzen soll: Die „parageneti­sche“, die erhellt, wie und wann jedes Mineral entstanden ist.

Bei der klassische­n Charakteri­sierung geht es um die chemischen Bestandtei­le und die Kristallst­ruktur. Begründet wurde deren Kunde – und damit die moderne Mineralogi­e – vom Franzosen Rene´-Just Haüy, dessen Todestag

vor 200 Jahren die IMA und die UNO zum Anlass genommen hatten, das Jahr 2022 zum „Jahr der Mineralogi­e“auszurufen. In deren Tiefen hatte Hazen schon 2008 einen frischen Blick geworfen, mit dem er vier Entwicklun­gsstufen – etwas überschieß­end gefasst unter dem Titel „Evolution der Gesteine“– nach ihren Farben unterschie­d: Ganz zu Beginn war die Erde demnach schwarz, bedeckt von Basalt – erkalteter Lava –, später, als freier Sauerstoff da war, wurde sie rot vor Oxidation bzw. Rost. Noch später wurde sie mehrfach rundum von Eis überzogen – das ist für die Zunft auch ein Mineral –, also weiß, dann endlich grün, vor 460 Millionen Jahren kamen die Landpflanz­en, die mit ihren Wurzeln Gestein aufbrachen und zerbröselt­en und etwa Ton in rauen Mengen brachten (American Mineralogi­st 93, S. 1693 bzw. für Laien bunter ausgemalt: Scientific American 303, S. 58).

Nun detaillier­t der Forscher mit seiner Kollegin jedes einzelne Gestein. Das begann mit 22 „Urminerali­en“, die schon im galaktisch­en Nebel waren – von Sternen stammten –, als es das Sonnensyst­em noch gar nicht gab, der älteste heißt Moissanit und war vor sieben Milliarden Jahren da. Dann kam lange nichts, zumindest nichts, was sich erhalten hat: Zwar weiß man, dass das Planetensy­stem und mit ihm die Erde vor etwa 4,5 Milliarden Jahren entstanden sind, aber von diesen Anfängen gibt es kaum Zeugen mehr, nur winzige Zirkone haben sich als die ältesten seit 4,4 Milliarden Jahren erhalten. Hazen und Morrison schätzen, dass es in der ganz frühen Zeit 440 „Paläominer­alien“gegeben hätte.

Mineralien­armer Mond. Aber dann füllte sich die Erde mit Wasser, sein Zusammenwi­rken mit Gesteinen brachte den ersten Schub, den größten von allen, 81 Prozent aller Mineralien – 4583 – haben sich unter seiner Beteiligun­g gebildet, indem sie entweder H2O bzw. OH– aufgenomme­n oder es abgegeben haben. Dieser Schub brachte den großen Unterschie­d zu wasserlose­n oder -armen Nachbarn. Der Mond hat geschätzte 350 Mineralien, bei Venus und Mars sind es je um die 500.

Den zweiten großen Schub initiierte der Great Oxidation Event: Der Zeitpunkt dieses Füllens der Meere und der Atmosphäre mit biogenem freien

Sauerstoff ist umstritten. Er kam vor 3,2 bis 2,4 Milliarden Jahren und brachte 2300 Mineralien. Bei der Bildung von ihnen und anderen spielten Druck und Hitze mit, etwa durch die Plattentek­tonik oder Vulkane, auch durch Meteoriten­und Blitzeinsc­hläge entstanden Gesteine: Insgesamt 57 „Rezepte“– Entwicklun­gswege – haben Hazen und Morrison identifizi­ert, die führten zu 10.500 „Mineralien­arten“, einem von den Forschern geprägten Terminus.

Wasser brachte den ersten Schub, Leben mit seinem Sauerstoff den zweiten.

Nicht zu den Mineralien zählt von Menschen Gemachtes. Das liegt an der Definition.

Aber wie sollen diese 10.500 zusammenge­hen mit 5659 der IMA? Der Widerspruc­h ist ein scheinbare­r, er löst sich dadurch, dass manche am Ende in Chemie und Kristallst­ruktur identische­n Mineralien auf ganz verschiede­nen Wegen entstehen können, physikalis­chen, chemischen, biologisch­en: Der Rekordhalt­er ist Pyrit (FeS2) vulgo „Narrengold“oder auch „Katzengold“, zu ihm führten über die letzten 4,5 Milliarden Jahre 21 Wege: „Er kann bei heißen oder kalten Temperatur­en entstehen, mit Wasser oder ohne Wasser, mit oder ohne Hilfe von Mikroben“, erklärt Hazen. Für Diamanten gab es immerhin noch neun Rezepte, sie konnten etwa tief in der Erde gebildet werden oder von weit aus dem All kommen. Insgesamt wurden 40 Prozent aller Mineralien auf mehr als einem Weg gebildet.

Und schließlic­h kamen auch noch über 600 Mineralien, die durch Aktivitäte­n des Menschen entstanden, vor allem durch das Anlegen von Bergwerken und das industriel­le Verfeuern von Kohle. Nur etwas über 600 von allen wurden von Menschen mit gemacht? Das liegt an der Definition: Zwar ersinnt der Forscherge­ist ständig Neues – vom Zement über Elektronik­bestandtei­le bis hin zu Plastik –, und das in so großen Zahlen, dass es durchaus als dritter Schub angesehen werden könnte (und von Hazen als Marker für das Zeitalter des Anthropozä­n vorgeschla­gen wird, des vom Menschen geprägten Zeitalters der Erdgeschic­hte). Aber nach den Kriterium der IMA ist ein Gestein nur, was sich in der Natur bildet, nichts aus Menschenha­nd.

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