Die Presse am Sonntag

Papst auf »Pilgerreis­e der Buße«

In Kanada wird sich Franziskus bei den indigenen Völkern für deren erlittenes Unrecht entschuldi­gen. In den »Residentia­l Schools« herrschten brutale, bisweilen unmenschli­che Zustände.

- VON GERD BRAUNE

Es sind vier Wörter, die Wilton Littlechil­d vom Papst zu hören hofft: „Es tut mir leid.“Littlechil­d ist Chief der Cree-Nation in der Gemeinde Maskwacis. Dort stand einst eine der größten „Residentia­l Schools“: Internate, in denen Kinder von Kanadas Ureinwohne­rn schwer misshandel­t wurden. Littlechil­d war Ko-Vorsitzend­er der Wahrheitsu­nd Versöhnung­skommissio­n, die die Geschichte der „Residentia­l Schools“aufarbeite­te – und das Schicksal der 150.000 indigenen Kinder, die dieses Schulsyste­m durchliefe­n und deren Existenzen zum Teil physisch und psychisch zerstört wurden.

Wenn Papst Franziskus am Sonntag zu seinem lang erwarteten Besuch in Kanada eintrifft, werden die Begegnunge­n mit den indigenen Völkern im Zentrum stehen. Und eine Entschuldi­gung – für das Unrecht, das die katholisch­e Kirche in Zusammensp­iel mit dem kanadische­n Staat den Ureinwohne­rn des Landes zugefügt hat, insbesonde­re durch die „Residentia­l Schools“. So sieht der Papst seinen sechstägig­en Besuch, der ihn nach Edmonton, Que´bec und Iqaluit führen wird, als eine „Pilgerreis­e der Buße“, die zur Heilung und Versöhnung beitragen solle.

Für die Überlebend­en der Institutio­nen werden es schwere, von Emotionen belastete Stunden sein. Tausende ehemalige Schülerinn­en und Schüler – viele in sehr hohem Alter – sowie ihre Nachkommen werden den Papst sehen und ihm zuhören, in Begleitung von Traumabera­tern. „Es geht um die Überlebend­en, es geht um Wahrheit und Versöhnung“, sagt Littlechil­d. „Der Papst wird an den Ort kommen, an dem die Schule gestanden ist, und er wird den nahe gelegenen Friedhof aufsuchen“, schildert Littlechil­d. Dort sind Kinder beerdigt, die während ihrer Schulzeit starben. John Crier, wie Littlechil­d ein Überlebend­er der „Ermineskin Residentia­l School“, ergänzt: „Ich heiße den Papst willkommen.“

Seit vielen Jahren hatten Vertreter der indigenen Völker Kanadas, der First Nations, wie sie genannt werden, der Inuit und der Me´tis – eines indigenen Volkes, das aus den Beziehunge­n europäisch­er Siedler mit indigenen Frauen entstanden ist – darauf gewartet, dass der Papst eine Entschuldi­gung ausspricht. Im April dieses Jahres fand Franziskus nach Begegnunge­n mit Delegation­en der Ureinwohne­r im Vatikan Worte tiefen Bedauerns: Er fühle „Trauer und Scham wegen der Rolle, die eine Anzahl von Katholiken, besonders solche mit Verantwort­ung, bei all den Dingen innehatten, die euch verwundet haben, bei den Missbräuch­en, die ihr erlitten habt, und bei dem Mangel an Respekt, gegenüber eurer Identität, eurer Kultur und sogar eurer spirituell­en Werte.“

Nun wird er seine Entschuldi­gung in den indigenen Gemeinden wiederhole­n und, so hoffen es die Ureinwohne­r, noch stärker artikulier­en.

Zerstörung der Identität. Kanada setzt sich seit den 1990er-Jahren mit dem dunklen Kapitel der „Residentia­l Schools“und der vom Staat über Jahrzehnte betriebene­n Zerstörung indigener Identität und Kultur auseinande­r – als „Reconcilia­tion“wird das Bemühen bezeichnet, eine neue Beziehung zu den indigenen Völkern aufzubauen, die von Respekt geprägt ist.

Die „Residentia­l Schools“waren Internatss­chulen zur „Umerziehun­g“indigener Kinder. Sie wurden vom kanadische­n Staat eingericht­et, aber überwiegen­d von christlich­en Kirchen, darunter die katholisch­e Kirche und katholisch­e Ordensgeme­inschaften, betrieben. 130 derartige Institutio­nen gab es im ganzen Land – bis in die 1990er-Jahre. Ihr Niedergang setzte jedoch viel früher, Ende der 1960er-Jahre, ein, als die schlimmen Folgen des Systems immer deutlicher wurden.

Die Institutio­nen dienten dem Ziel, die Kinder in den von europäisch­en Einwandere­rn geprägten Staat einzuglied­ern. Sie wurden ihren Familien entrissen und in die weit entlegenen Schulen gebracht. Ihre Identität und Kultur wurden beschädigt oder zerstört. Sie durften weder ihre Sprache sprechen noch ihre Traditione­n pflegen.

Eine Wahrheits- und Versöhnung­skommissio­n hatte 2015 einen äußerst langen Bericht über die „Residentia­l Schools“veröffentl­icht und Berichte von Betroffene­n festgehalt­en, die von Missbrauch berichtete­n – seelischem, körperlich­em und sexuellem Missbrauch. Die Kommission stellte auch fest, dass mindestens 4100 Kinder durch Krankheite­n, Vernachläs­sigung oder Unfälle in den Schulen ums Leben gekommen waren. Viele wurden, oft ohne Mitteilung an ihre Familien, in unmarkiert­en Gräbern beigesetzt. Nach der Entdeckung Hunderter anonymer Gräber indigener Kinder wurde seit Mai 2021 der Ruf nach einer Entschuldi­gung seitens der katholisch­en Kirche lauter. Der kanadische Staat war diesen Schritt 2008 gegangen.

150.000 indigene Kinder durchliefe­n das System, das Existenzen zerstörte.

Seit der Entdeckung von anonymen Gräbern verlangen Indigene eine Entschuldi­gung.

Einige Vertreter indigener Völker machten im Vorfeld des Papst-Besuchs deutlich, dass sie mehr als Worte des Bedauerns erwarteten. So wird die Kirche aufgeforde­rt, die „Doktrin der Entdeckung“aus dem 15. Jahrhunder­t zu widerrufen, die die Basis für die Kolonialis­ierung von „nicht christlich­em“Land außerhalb Europas war und die Unterwerfu­ng indigener Völker rechtferti­gte. Zudem wünschen die Ureinwohne­r, dass Kunst- und Gebrauchsg­egenstände aus ihren Kulturen, die sich in Museen des Vatikans befinden, zurückgege­ben werden.

Messe in Edmonton. Aufgrund des fragilen Gesundheit­szustands des Papstes wurde die Reise auf einige wenige Stationen beschränkt. Am Montag wird Franziskus jedenfalls eine Messe im Commonweal­th Stadion in Edmonton lesen und am Mittwoch nach Que´bec weiterreis­en. Dort wird er unter anderem den auch für indigene Christen wichtigen Wallfahrts­ort Sainte-Annede-Beaupre´ besuchen.

Am Freitag fliegt der Papst dann für einige Stunden nach Iqaluit im Arktisterr­itorium Nunavut, wo er weitere Überlebend­e und Vertreter der Inuit treffen wird.

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