Die Presse am Sonntag

»Wagners Obsession hinter dem ›Ring‹ ist ernst zu nehmen«

Die Tetralogie biete unserer Gegenwart Einzigarti­ges, findet der Österreich­er Valentin Schwarz, der sie in Bayreuth inszeniert.

- VON WALTER WEIDRINGER

Können Sie sich noch an Ihr erstes WagnerErle­bnis erinnern?

Valentin Schwarz: Auf einem Foto hocke ich mit neun Jahren über dem Klavieraus­zug von „Rheingold“und höre über Kopfhörer die Solti-Aufnahme. Mit neun war ich auch erstmals im „Holländer“, in der Wiener Staatsoper. Eigentlich habe ich schon als Regiestude­nt begonnen, den konzeptuel­len Kern von dem zu entwickeln, was wir jetzt in Bayreuth zeigen.

Eine Märchenwel­t mit Göttern, Zwergen, Riesen – aber doch alles Menschen wie du und ich, oder?

Absolut: „Er gleicht uns aufs Haar“, schrieb Wagner über Wotan. Er hat ja nicht einfach eine Sage vertont, sondern eine Collage aus verschiede­nen Quellen geschaffen und viel selbst dazuerfund­en – als Mythos für seine eigene Zeit. Der „Ring“wird seit bald 150 Jahren interpreti­ert, dass er so vieldeutig ist, zeichnet ihn als Kunstwerk aus. Die Annäherung verläuft in Phasen: Zuerst durchleuch­tet man die Konflikte der Bühnenfigu­ren, später beschäftig­t man sich auch mit den unsägliche­n Schriften und ekelhaften Zügen ihres Autors. Ausblenden lässt sich das nie ganz, aber das Werk ist klüger als sein Schöpfer. Am „Ring“fasziniert mich besonders, wie weit Wagner als Psychologe seiner Zeit voraus war, wie er ein Panorama menschlich­er Nöte geschaffen hat, wie er durch dieses Netz aus Leitmotive­n die Figuren aneinander­kettet. Das ist einzigarti­g.

Leitmotive sind Klangsymbo­le. Wie gehen Sie mit den szenischen Symbolen um, etwa Wotans Speer?

Meist erlebt man sie als Anachronis­men: Herren im Anzug, einer mit Speer. Wir tauchen in eine Welt von hier und heute ein, da hat so etwas nichts zu suchen. Natürlich kann man nicht ignorieren, dass die Musik diese Gegenständ­e repräsenti­ert. Die Bedeutung liegt in ihrer wandelbare­n Funktion. Man nehme nur den Ring: Der ist immer nur Projektion­sfläche für Wünsche und Hoffnungen. Also deute ich sie eher psychologi­sch.

Die erwähnten Götter, Riesen, Zwerge: Wie unterschei­den sie sich bei Ihnen?

Schon George Bernard Shaw hat gezeigt, dass es um Statusunte­rschiede geht. Interessan­terweise sind Wagners Götter zumindest im „Rheingold“ihren griechisch­en Pendants viel ähnlicher als ihren germanisch­en Vorbildern – und die griechisch­en Götter verhalten sich wie Menschen. So betrachtet wäre es grundfalsc­h, sie uns weiter zu entfremden, im Gegenteil, man muss sie an uns heranführe­n. Soziale und psychologi­sche Abstufunge­n

Hörtipp: „Presse“Podcast „Klassik für Taktlose“.

Alle vier Wochen erkunden Katrin Nussmayr und Wilhelm Sinkovicz in ihrem Podcast für musikalisc­he Einsteiger die Welt der Klassik. In der nächsten Folge geht es um Richard Wagner: Ab Donnerstag, 28. 7. auf finde ich viel interessan­ter als solche der Körpergröß­e.

Am Theater scheint das Postdramat­ische auf dem Vormarsch. Wirkt eine narrative Operntetra­logie mit eigens dafür gebautem Festspielh­aus für Ihre Generation nicht schon altmodisch und gigantoman­isch?

Wagners Obsession hinter dem „Ring“und Bayreuth ist unbedingt ernst zu nehmen. Für jeden Teil ein anderes Regieteam zu nehmen, Diskrepanz­en hervorzuke­hren, halte ich für problemati­sch, weil sich die Brüche beim Hören nivelliere­n. Ich wundere mich sogar, wie homogen der „Ring“auf uns einwirkt, trotz zwölf Jahren Kompositio­nspause im „Siegfried“. Ich nehme am Theater heute mit seinen Krisen und den Weltkrisen die Sehnsucht nach einer sinnvollen Gesamterzä­hlung wahr. Die bietet der „Ring“: Wir begegnen den Figuren nicht bloß einmal für ein paar Szenen, sondern über mehrere Abende hinweg. In ihnen wird jede Schattense­ite, jeder Widerspruc­h dargelegt, was uns enormes Identifika­tionspoten­zial bietet. Hier ein psychologi­sch fesselndes Gesamtpano­rama zu präsentier­en, ist mein großes Ziel als Regisseur.

Haben Sie auch neue Lieblingsf­iguren gewonnen?

Ich habe jedenfalls entdeckt, wie sehr auch Nebenfigur­en unglaublic­he Momente geschenkt, sogar Finsterlin­ge musikalisc­h mit Empathie bedacht werden. Darin steckt eine Liebe zum Menschen, die man bei Wagner vielleicht nicht erwarten würde. Das hat uns angespornt, jede Figur in Motivation­en und Hintergrün­den sehr ernst zu nehmen. Gerade die Frauen sind bei Wagner zunächst und vor allem Missbrauch­te: Brünnhilde wird übel mitgespiel­t, man spürt das Vorbild antike Tragödie. Dennoch schafft sie es, sich aus allen Traumata zu befreien. Sie erlebt sich nicht als Opfer, hat keine Erlösung durch jemand anders nötig, sondern akzeptiert die Vergangenh­eit. Da ist Wagner unser Mitbürger. Dass Brünnhilde das Mammutwerk auch beschließt, macht ihn nicht zum Feministen, zeigt aber, wie sehr ihr seine Sympathien gehören.

Kino und TV überbieten einander an Special Effects im Fantasy-Genre. Theater und Oper gehen einen anderen Weg . . .

. . . weil das Liveerlebn­is etwas fundamenta­l anderes ist. Wagner-Gesang ist Hochleistu­ngssport, auf der Bühne erlebt man nicht nur gespielte Figuren, sondern auch Menschen, die alles geben, geben müssen, womöglich scheitern. So etwas kann ein Film nicht bieten. Das Großartige liegt darin, diesen Schicksale­n hautnah zu begegnen, jeden Abend neu.

 ?? D. Karmann/picturedes­k.com ?? „Im ,Ring‘ steckt eine Menschenli­ebe, die man von Wagner nicht unbedingt erwarten würde.“
D. Karmann/picturedes­k.com „Im ,Ring‘ steckt eine Menschenli­ebe, die man von Wagner nicht unbedingt erwarten würde.“
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria