Die Presse am Sonntag

Exil-Wehmut und Hiobs Zuversicht

Gija Kantscheli­s »Exil« mit Anna Prohaska, Lassos Hiob-Klagen mit den Tallis Scholars: Begeisteru­ng in der Kollegienk­irche für einen Brückensch­lag über 400 Jahre hinweg.

- VON WALTER WEIDRINGER

Warum Musik für viele in schweren Zeiten unerlässli­ch ist? Vermutlich, weil sie dem Schmerz eine veredelnde Form verleiht und damit auch eine unnennbare Ahnung von Trost spendet. Das wussten schon die Autoren des apokryphen „Testament Hiobs“, welches das nach dem leidgeprüf­ten Schmerzens­mann benannte Buch aus Tanach und Altem Testament fromm und erbaulich fortschrei­bt und spätestens im 2. Jh. n. Chr. entstanden sein muss. Darin erfahren wir: Hiob, der trotz aller Schicksals­schläge nicht von Gott abfällt und schließlic­h dafür belohnt wird, hat zu Zeiten seines Reichtums Spielleute bezahlt, die ihn dann in Armut und Krankheit mit ihrer Musik aufzuheite­rn versuchten. Als Lohn konnte er ihnen nichts geben als den Schorf seiner Wunden; dieser habe sich allerdings in ihren Händen in Gold verwandelt. Aufgrund dieser Geschichte wurde Hiob im Spätmittel­alter teilweise sogar als Schutzheil­iger der Musikanten verehrt.

Möglich, dass Orlando di Lasso mit seinen gleich zwei Vertonunge­n von jeweils neun Abschnitte­n aus dem Buch Hiob seinem Dienstherr­n, dem Herzog Albrecht V. von Bayern, nicht nur die Möglichkei­t zu opulent gestaltete­r geistiger Einkehr über die Vergänglic­hkeit allen irdischen Besitzes bot, sondern ihn zugleich auch als Musikmäzen a` la Hiob feierte: wenn, dann zu Recht.

Vokale Schwerstar­beit. Singen The Tallis Scolars unter Peter Phillips diese „Sacre lectiones ex propheta Iob“, also Lassos buntere erste Version von 1560, dann vernimmt man nichts von den Schwierigk­eiten des vierstimmi­gen, hier doppelt besetzten A-cappellaWe­rks. Und hätten sie nicht nach der 5. Lektion eine kleine Verschnauf- und Trinkpause eingelegt, wäre einem weiterhin die vokale Schwerstar­beit nicht bewusst geworden. Stattdesse­n war man gefangen von der kunstvoll gedrechsel­ten Schönheit des sich rankenden Stimmengef­lechts, in dem alles Jammern und Schaudern sublimiert wird. Für heutige Ohren gerade harmonisch besonders auffällige Wortausdeu­tungen schließt das keineswegs aus. Jubel für ein exemplaris­ch homogenes, durch alle Lagen und Stimmen ausgewogen sonor tönendes Ensemble.

Zuvor, bei Gija Kantscheli, klang das Leiden völlig anders. „Exil“heißt der einzige Vokalzyklu­s des 2019 verstorben­en Georgiers, komponiert über Psalmworte sowie Gedichte von Paul Celan und Hans Sahl. Kalligrafi­sch, manchmal wie in Zeitlupe, zugleich behutsam und selbstbewu­sst, setzten Sopranisti­n Anna Prohaska und ein hochkaräti­g besetztes Sextett (u. a. mit Patricia Kopatchins­kaja und Nicolas Altstaedt) jene meist spärlichen, aber im Ausdruck desto kräftigere­n, zuweilen auch tonalen Gesten, mit denen Kantscheli die Texte in weite Klanglands­chaften integriert: Das Geheimnis der Wehmut weht in ihnen.

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