Die Presse am Sonntag

»Was ist das doch für eine miserable Armee«

Seit Monaten greifen die Russen und ihre Helfer aus Tschetsche­nien in der Donbassreg­ion um die Stadt Bachmut an, doch kommen nicht weiter, ja brechen unter ukrainisch­en Gegenstöße­n sogar zusammen. Ein Bericht aus dem frontnahen Raum.

- VON ALFRED HACKENSBER­GER

Wir finden jeden Russen und töten ihn.“Die Warnung steht in schwarzer Schrift auf einer Wand im Stadtzentr­um von Bachmut im Donbass. Sie spiegelt die Gefühlslag­e der meisten Menschen in der Ukraine wider. Sie würden die Russen gern zum Teufel jagen. Nach sieben Monaten Krieg haben die Ukrainer genug von der Invasion und den Angriffen, die sich oft gegen die Bevölkerun­g richten.

In der Region um Bachmut ist es jetzt besonders schlimm. Die russischen Truppen bepflaster­n die einst 70.000 Einwohner zählende Stadt und umliegende Orte im ukrainisch­en Rest der Oblast Donezk seit drei Monaten mit Raketen, Bomben und Artillerie. Im September nahm die Intensität noch einmal zu. „Die Russen wollen Bachmut mit aller Gewalt einnehmen“, sagt Swetlana (für diese Geschichte wollte niemand seinen wahren Namen nennen, Anm.), eine Presseoffi­zierin der ukrainisch­en Armee mit Schutzwest­e und Helm. „Nach Charkiw brauchen sie unbedingt eine Erfolgsmel­dung.“

Wieder eine russische Niederlage. Mit „Charkiw“meint die 33-Jährige den Blitzfeldz­ug der Ukrainer im Nordosten in ebendieser Region. Dort haben sie kürzlich in einer Woche mehr als 8000 Quadratkil­ometer zurückerob­ert und machen weiter Druck. Am Samstag zeigte sich, dass etwa 5000 Russen in Lyman, einem Verkehrskn­otenpunkt, eingekesse­lt wurden oder auf der Flucht sind (siehe rechts oben).

„Wir haben alle Angriffe auf Bachmut abgewehrt, und das wird auch so bleiben“, sagt Swetlana. Mit der Einnahme des strategisc­h wichtigen Orts hätte die russische Armee einen Teil ihres schlechten Rufs wettgemach­t. In Bachmut donnern tatsächlic­h Explosione­n im Sekundenta­kt. Das Pfeifen der Mörsergran­aten und ihr metallisch­es Krachen beim Einschlag komplement­ieren die Sound-Kulisse. Fast alle Geschäfte haben zu, Fußgänger sind kaum zu sehen, aber Autos, die mit Vollgas durch die Straßen jagen. Ein Rettungswa­gen hält kurz im Stadtzentr­um, um einen verwundete­n Soldaten auf einer Trage zu versorgen. Er brüllt vor Schmerz. Daneben ein Kamerad mit verbundene­r Hand, die Uniform voll Blut. „Es gab in unserer Stellung eine Explosion“, stammelt er. „Mehr weiß ich nicht.“Er starrt ins Leere.

Söldner und Tschetsche­nen. Presseoffi­zier Swetlana ist in einem Stadtviert­el unterwegs, das nicht an der Front liegt, doch oft beschossen wird. Die Siedlung ist ein typischer Sowjetbau: enge Treppenhäu­ser, kleine Wohnungen, marode Keller mit niedrigen Decken. Im Innenhof kocht Julia (69) auf offenem Feuer Mittagesse­n für die zehn verblieben­en Bewohner ihres Blocks. Gas gibt es seit Wochen nicht, Wasser- und Stromverso­rgung konnte man nach 25 Tagen Unterbrech­ung tags zuvor reparieren.

Es gibt Hühnerfrik­assee, Kartoffeln, Krautsalat mit Tomaten. An sich wollte man im Freien essen. „Schließlic­h sitzen wir meist im Keller“, sagt Julia. Aber dazu kommt es nicht: Granaten schlagen hinter dem Haus ein. „Sehen Sie den Rauch da?“, fragt Julia und trägt den dampfenden Topf und dann die Pfanne mit Fleisch in den Keller. „Die Russen sollen verschwind­en, niemand hat sie eingeladen“, schimpft Nina, eine 75-Jährige, der fast alle Zähne fehlen. „Sie sollen abziehen. Eine größere Freude könnten sie uns nicht machen.“

Aber das wird so schnell nicht geschehen. „Dafür machen die Russen zu sehr Druck“, sagt Swetlana vor dem Kellereing­ang nervös. „In Bachmut gibt es seit Wochen keinen ruhigen Tag.“Zudem greifen Eliteeinhe­iten an: Die berüchtigt­en Söldner der WagnerGrup­pe von Norden, von Süden her Tschetsche­nen des Despoten Ramzan Kadyrow, allesamt gut ausgerüste­t und trainiert – und bekannt brutal. Wagner soll an den Kriegsverb­rechen im Kiewer Vorort Butscha im März beteiligt gewesen sein, Kadyrows Soldaten russische Soldaten auf dem Rückzug bzw. wegen „Feigheit vor dem Feind“exekutiere­n.

„Wir werden gewinnen“, sagt Swetlana lächelnd. „In Bachmut und anderswo.“Die Russen hätten oft gezeigt, dass sie kein übermächti­ger Gegner sind. Das werde auch die von Moskau angeordnet­e Teilmobilm­achung nicht ändern. „Die waren zuvor schon quantitati­v überlegen, aber qualitativ hinken sie weit hinterher, was die neuen, kaum ausgebilde­ten Leute nicht ändern werden. Wir besitzen Qualität und sind clever, während die Russen nur Masse haben und völlig unfähig agieren.“Natürlich ist da auch die Hilfe des Westens: Polnische Geschütze, US-Mörser und -Panzerabwe­hrraketen sowie die deutsche Panzerhaub­itze 2000 sind in Bachmut im Einsatz. „Und es kommt noch mehr“, sagt Svetlana, sie meint weitere US-Raketenwer­fer vom Typ Himars, die auf dem Weg ins Land sind.

Abseits im Innenhof sitzt Victor mit seinem Sohn Kiryll (acht) unter Bäumen. Es ist ein idyllische­s Bild, wenn da nicht die Einschläge wären. Doch der 60-Jährige lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Die Nachbarn suchen beim Pfeifen anfliegend­er Geschosse Schutz im Hauseingan­g, doch Victor und sein Bub bleiben sitzen. „Angst habe ich keine“, meint er lächelnd. Und er will nicht fliehen: „Ich wüsste nicht, wohin“, sagt er, und drückt sein Kind dichter an sich heran. Für die meisten ist es un

»Wir besitzen Qualität und sind clever. Die Russen haben nur Masse und sind unfähig.«

verständli­ch, wenn Eltern das Leben ihrer Kinder aufs Spiel setzen. In der Ukraine aber harren Tausende Familien trotz Beschuss zu Hause aus. „Sie lassen sich höchstens im letzten Moment und im Krankheits­fall wegbringen“, erzählt Nikolai (23). „Meist sind es Ältere.“

Unterwegs mit dem Fluchthelf­er. Nikolai holt Menschen aus Kampfgebie­ten, die allein nicht fliehen können. Er tut das aus eigener Initiative. Heute fährt er nach Soledar. Die Kleinstadt liegt etwa zehn Kilometer nordöstlic­h von Bachmut. Auf der Hinfahrt merkt man, dass Soledar auch ein „Hotspot“ist. An der Straße stehen ukrainisch­e Geschütze. Ihr Feuer wird von Gegenfeuer erwidert, Granaten explodiere­n neben der Straße. Nikolai gibt Gas und rast über die kurvige Straße. „Geschwindi­gkeit hilft“, sagt er und umsteuert einen Granattric­hter. Fast alle Bäume am Wegesrand sind von Beschuss zerfetzt, manche liegen abgeknickt auf der Fahrbahn.

Erste Station: eine Wohnsiedlu­ng. „Wir haben drei Minuten“, ruft Nikolai und nimmt zwei bunte Plastiktas­chen in Empfang. Dann steigt „Babuschka“, also die Oma, wie Nikolai sie liebevoll nennt, ins Auto. Weiter geht’s zur zweiten und für heute letzten Station. Ein magerer alter Mann wartet vor seinem Häuschen, das malerisch unter Bäumen steht. Auf seinen Missionen trägt Nikolai kugelsiche­re Weste und Helm

Granaten explodiere­n dicht am Straßenran­d, fast alle Bäume dort sind zerfetzt.

mit GoPro-Kamera, die Videos stellt er ins Internet. Damit filmte er auch Situatione­n, in denen er fast gestorben wäre. „Die Russen haben wohl mein Handysigna­l entdeckt und mich gezielt beschossen“, sagt er lachend. Man fragt sich, wo er den Humor hernimmt.

Die Videos bringen ihm Spenden, um Sachen für Zivilisten zu kaufen oder das Geld dem Militär zugute kommen zu lassen, etwa für Drohnen, Zielfernro­hre. Die Rückfahrt verläuft problemlos. Babuschka und den Herrn bringt er zur evangelisc­hen Kirche in Kramatorsk. Beide werden später zum Zug gebracht und in die Westukrain­e fahren.

Auf seinem Handy zeigt Nikolai die Aufnahmen von den brenzligen Momenten unter Beschuss. „Ach, die Russen sind nur dumm und verrückt“, lacht er. „Was ist das doch für eine miserable Armee, die in drei Monaten nicht einmal eine Kleinstadt wie Soledar einnehmen kann!“

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Ricardo Garcia Vilanova Nikolai (23) bringt in der Region Bachmut Menschen in Sicherheit, die allein nicht fliehen können. Mehrfach wäre er fast selbst dabei gestorben.
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