»Was ist das doch für eine miserable Armee«
Seit Monaten greifen die Russen und ihre Helfer aus Tschetschenien in der Donbassregion um die Stadt Bachmut an, doch kommen nicht weiter, ja brechen unter ukrainischen Gegenstößen sogar zusammen. Ein Bericht aus dem frontnahen Raum.
Wir finden jeden Russen und töten ihn.“Die Warnung steht in schwarzer Schrift auf einer Wand im Stadtzentrum von Bachmut im Donbass. Sie spiegelt die Gefühlslage der meisten Menschen in der Ukraine wider. Sie würden die Russen gern zum Teufel jagen. Nach sieben Monaten Krieg haben die Ukrainer genug von der Invasion und den Angriffen, die sich oft gegen die Bevölkerung richten.
In der Region um Bachmut ist es jetzt besonders schlimm. Die russischen Truppen bepflastern die einst 70.000 Einwohner zählende Stadt und umliegende Orte im ukrainischen Rest der Oblast Donezk seit drei Monaten mit Raketen, Bomben und Artillerie. Im September nahm die Intensität noch einmal zu. „Die Russen wollen Bachmut mit aller Gewalt einnehmen“, sagt Swetlana (für diese Geschichte wollte niemand seinen wahren Namen nennen, Anm.), eine Presseoffizierin der ukrainischen Armee mit Schutzweste und Helm. „Nach Charkiw brauchen sie unbedingt eine Erfolgsmeldung.“
Wieder eine russische Niederlage. Mit „Charkiw“meint die 33-Jährige den Blitzfeldzug der Ukrainer im Nordosten in ebendieser Region. Dort haben sie kürzlich in einer Woche mehr als 8000 Quadratkilometer zurückerobert und machen weiter Druck. Am Samstag zeigte sich, dass etwa 5000 Russen in Lyman, einem Verkehrsknotenpunkt, eingekesselt wurden oder auf der Flucht sind (siehe rechts oben).
„Wir haben alle Angriffe auf Bachmut abgewehrt, und das wird auch so bleiben“, sagt Swetlana. Mit der Einnahme des strategisch wichtigen Orts hätte die russische Armee einen Teil ihres schlechten Rufs wettgemacht. In Bachmut donnern tatsächlich Explosionen im Sekundentakt. Das Pfeifen der Mörsergranaten und ihr metallisches Krachen beim Einschlag komplementieren die Sound-Kulisse. Fast alle Geschäfte haben zu, Fußgänger sind kaum zu sehen, aber Autos, die mit Vollgas durch die Straßen jagen. Ein Rettungswagen hält kurz im Stadtzentrum, um einen verwundeten Soldaten auf einer Trage zu versorgen. Er brüllt vor Schmerz. Daneben ein Kamerad mit verbundener Hand, die Uniform voll Blut. „Es gab in unserer Stellung eine Explosion“, stammelt er. „Mehr weiß ich nicht.“Er starrt ins Leere.
Söldner und Tschetschenen. Presseoffizier Swetlana ist in einem Stadtviertel unterwegs, das nicht an der Front liegt, doch oft beschossen wird. Die Siedlung ist ein typischer Sowjetbau: enge Treppenhäuser, kleine Wohnungen, marode Keller mit niedrigen Decken. Im Innenhof kocht Julia (69) auf offenem Feuer Mittagessen für die zehn verbliebenen Bewohner ihres Blocks. Gas gibt es seit Wochen nicht, Wasser- und Stromversorgung konnte man nach 25 Tagen Unterbrechung tags zuvor reparieren.
Es gibt Hühnerfrikassee, Kartoffeln, Krautsalat mit Tomaten. An sich wollte man im Freien essen. „Schließlich sitzen wir meist im Keller“, sagt Julia. Aber dazu kommt es nicht: Granaten schlagen hinter dem Haus ein. „Sehen Sie den Rauch da?“, fragt Julia und trägt den dampfenden Topf und dann die Pfanne mit Fleisch in den Keller. „Die Russen sollen verschwinden, niemand hat sie eingeladen“, schimpft Nina, eine 75-Jährige, der fast alle Zähne fehlen. „Sie sollen abziehen. Eine größere Freude könnten sie uns nicht machen.“
Aber das wird so schnell nicht geschehen. „Dafür machen die Russen zu sehr Druck“, sagt Swetlana vor dem Kellereingang nervös. „In Bachmut gibt es seit Wochen keinen ruhigen Tag.“Zudem greifen Eliteeinheiten an: Die berüchtigten Söldner der WagnerGruppe von Norden, von Süden her Tschetschenen des Despoten Ramzan Kadyrow, allesamt gut ausgerüstet und trainiert – und bekannt brutal. Wagner soll an den Kriegsverbrechen im Kiewer Vorort Butscha im März beteiligt gewesen sein, Kadyrows Soldaten russische Soldaten auf dem Rückzug bzw. wegen „Feigheit vor dem Feind“exekutieren.
„Wir werden gewinnen“, sagt Swetlana lächelnd. „In Bachmut und anderswo.“Die Russen hätten oft gezeigt, dass sie kein übermächtiger Gegner sind. Das werde auch die von Moskau angeordnete Teilmobilmachung nicht ändern. „Die waren zuvor schon quantitativ überlegen, aber qualitativ hinken sie weit hinterher, was die neuen, kaum ausgebildeten Leute nicht ändern werden. Wir besitzen Qualität und sind clever, während die Russen nur Masse haben und völlig unfähig agieren.“Natürlich ist da auch die Hilfe des Westens: Polnische Geschütze, US-Mörser und -Panzerabwehrraketen sowie die deutsche Panzerhaubitze 2000 sind in Bachmut im Einsatz. „Und es kommt noch mehr“, sagt Svetlana, sie meint weitere US-Raketenwerfer vom Typ Himars, die auf dem Weg ins Land sind.
Abseits im Innenhof sitzt Victor mit seinem Sohn Kiryll (acht) unter Bäumen. Es ist ein idyllisches Bild, wenn da nicht die Einschläge wären. Doch der 60-Jährige lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Die Nachbarn suchen beim Pfeifen anfliegender Geschosse Schutz im Hauseingang, doch Victor und sein Bub bleiben sitzen. „Angst habe ich keine“, meint er lächelnd. Und er will nicht fliehen: „Ich wüsste nicht, wohin“, sagt er, und drückt sein Kind dichter an sich heran. Für die meisten ist es un
»Wir besitzen Qualität und sind clever. Die Russen haben nur Masse und sind unfähig.«
verständlich, wenn Eltern das Leben ihrer Kinder aufs Spiel setzen. In der Ukraine aber harren Tausende Familien trotz Beschuss zu Hause aus. „Sie lassen sich höchstens im letzten Moment und im Krankheitsfall wegbringen“, erzählt Nikolai (23). „Meist sind es Ältere.“
Unterwegs mit dem Fluchthelfer. Nikolai holt Menschen aus Kampfgebieten, die allein nicht fliehen können. Er tut das aus eigener Initiative. Heute fährt er nach Soledar. Die Kleinstadt liegt etwa zehn Kilometer nordöstlich von Bachmut. Auf der Hinfahrt merkt man, dass Soledar auch ein „Hotspot“ist. An der Straße stehen ukrainische Geschütze. Ihr Feuer wird von Gegenfeuer erwidert, Granaten explodieren neben der Straße. Nikolai gibt Gas und rast über die kurvige Straße. „Geschwindigkeit hilft“, sagt er und umsteuert einen Granattrichter. Fast alle Bäume am Wegesrand sind von Beschuss zerfetzt, manche liegen abgeknickt auf der Fahrbahn.
Erste Station: eine Wohnsiedlung. „Wir haben drei Minuten“, ruft Nikolai und nimmt zwei bunte Plastiktaschen in Empfang. Dann steigt „Babuschka“, also die Oma, wie Nikolai sie liebevoll nennt, ins Auto. Weiter geht’s zur zweiten und für heute letzten Station. Ein magerer alter Mann wartet vor seinem Häuschen, das malerisch unter Bäumen steht. Auf seinen Missionen trägt Nikolai kugelsichere Weste und Helm
Granaten explodieren dicht am Straßenrand, fast alle Bäume dort sind zerfetzt.
mit GoPro-Kamera, die Videos stellt er ins Internet. Damit filmte er auch Situationen, in denen er fast gestorben wäre. „Die Russen haben wohl mein Handysignal entdeckt und mich gezielt beschossen“, sagt er lachend. Man fragt sich, wo er den Humor hernimmt.
Die Videos bringen ihm Spenden, um Sachen für Zivilisten zu kaufen oder das Geld dem Militär zugute kommen zu lassen, etwa für Drohnen, Zielfernrohre. Die Rückfahrt verläuft problemlos. Babuschka und den Herrn bringt er zur evangelischen Kirche in Kramatorsk. Beide werden später zum Zug gebracht und in die Westukraine fahren.
Auf seinem Handy zeigt Nikolai die Aufnahmen von den brenzligen Momenten unter Beschuss. „Ach, die Russen sind nur dumm und verrückt“, lacht er. „Was ist das doch für eine miserable Armee, die in drei Monaten nicht einmal eine Kleinstadt wie Soledar einnehmen kann!“