Die Presse am Sonntag

Krise der Kinder- und Jugendhilf­e: Der

In Krisenzent­ren und Wohngemein­schaften herrscht akuter Personalma­ngel. Die Volksanwal­tschaft berichtet von Übergriffe­n unter den Jugendlich­en.

- VON VALERIE HEINE UND EVA SCHRITTWIE­SER

Anja G.* ist Jugendbetr­euerin mit Leib und Seele − genauer gesagt: Sie war es. Denn erst kürzlich hat sie sich beruflich umorientie­rt, arbeitet nun nicht mehr als Sozialarbe­iterin in einer Wohngemein­schaft der Kinder- und Jugendhilf­e, sondern in einer privaten Einrichtun­g. Der Grund: Sie konnte die Dauerbelas­tung nicht mehr stemmen.

Rund 60 Stunden die Woche war sie mit bis zu acht Kindern in der Wohnung allein. Das habe zu prekären Situatione­n geführt, erzählt sie. Etwa, wenn ein Kind handgreifl­ich wurde, ein anderes, gewalttrau­matisierte­s Kind daraufhin eine Panikattac­ke bekam. Für Anja G. bedeutete das: „Ich musste mich entscheide­n, um wen ich mich kümmere.“

Während Corona-Einzelquar­antänen sei die Situation für viele Bewohnerin­nen und Bewohner nicht mehr tragbar gewesen; die Kinder und Jugendlich­en hätten teilweise nur noch „raus wollen“. Anja G. zog schließlic­h die Notbremse, um ihre eigene psychische Gesundheit zu wahren. Mit ihren Erfahrunge­n ist die junge Frau nicht allein. „Burn-outs ziehen sich durch die gesamte Organisati­on“, sagt sie.

Die Kinder- und Jugendhilf­e unterstütz­t Familien und hilft Minderjähr­igen in Notlagen. Sind Kinder oder Jugendlich­e in Familien nicht ausreichen­d geschützt oder gar Gewalt ausgesetzt, kommen sie in ein sogenannte­s Krisenzent­rum. Sollten sie nicht mehr in die Familie eingeglied­ert werden können, werden sie meist in Wohngemein­schaften untergebra­cht.

»Ich habe nicht mehr sagen können, ich stelle den Kinderschu­tz sicher.«

Seit Längerem leidet die Organisati­on aber unter akutem Fachkräfte­mangel. Immer mehr Betreuerin­nen und Betreuer werfen aufgrund der Belastunge­n die Flinte ins Korn, was den Druck für die übrigen erhöht. Burnouts sorgen dafür, dass es monatelang­e Ausfälle gibt, die Stellen jedoch nicht nachbesetz­t werden, berichtet Anja G. Die Volksanwal­tschaft meldet dazu in ihrem Jahresberi­cht 2021: „Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r in Einrichtun­gen mussten bis an ihre Leistungsg­renzen gehen, um Minderjähr­igen in kritischen Phasen beizustehe­n und den Betrieb aufrechtzu­erhalten. Strukturel­le Versorgung­sdefizite können aber auch sie – trotz Bemühung – nicht kompensier­en.“

Übergriffe und Polizeiein­sätze. Die Volksanwal­tschaft hat in mehreren Bundesländ­ern Einrichtun­gen überprüft. In Niederöste­rreich traf die Kommission in Wohngemein­schaften auf Jugendlich­e, die ihren Mitbewohne­rinnen und -bewohnern gegenüber gewalttäti­g wurden. Rettungs- und Polizeiein­sätze verängstig­en die unbeteilig­ten Kinder und Jugendlich­en. Unterschie­dliche Altersgrup­pen innerhalb der Einrichtun­gen verschärfe­n die Problemati­k. Weiter gibt die Volksanwal­tschaft an, in Kärnten auf eine Wohngemein­schaft gestoßen zu sein, in der ein straffälli­ger Jugendlich­er Mitbewohne­rinnen und Mitbewohne­r dazu animierte, ebenfalls kriminelle Handlungen

zu begehen. Andere fühlten sich bedroht und wollten dringend die Unterkunft wechseln.

„Ja, die Situation ist angespannt“, bestätigt nun auch Ingrid Pöschmann, Sprecherin der MA 11, die in Wien für die Kinder- und Jugendhilf­e zuständig ist. Der Fachkräfte­mangel schlage sich gerade sehr stark in der Pädagogik nieder, Posten können oft nicht nachbesetz­t werden. Das führe dazu, dass Beschäftig­te öfter auch Überstunde­n leisten müssen. „Aber wir haben eine starke Personalve­rtretung, die genau darauf schaut, dass Ruhezeiten eingehalte­n werden“, sagt Pöschmann. Um mehr Personal zu gewinnen und zu halten, versucht man, unter anderem in Zusammenar­beit mit Fachhochsc­hulen, das Image dieses Arbeitsber­eichs zu verbessern und treffe interne Qualifizie­rungsmaßna­hmen.

Matratzen auf dem Boden. Auch in den Krisenzent­ren kann man den Anforderun­gen, zumindest zeitweise, nicht mehr gerecht werden. Clara F. hat Soziale Arbeit studiert. Nach ihrem Abschluss wollte sie in einem Krisenzent­rum in Wien arbeiten, nicht zuletzt, weil es dort keine Einzeldien­ste gibt. Alle seien sehr bemüht gewesen, den Umgang mit den Kindern bezeichnet sie als „liebevoll“. Die Rahmenbedi­ngungen waren es schließlic­h, die sie abschreckt­en. So habe sie Räume gesehen, in denen Kinder auf Matratzen auf dem Boden schlafen mussten. Auch die Volksanwal­tschaft macht diese Beobachtun­gen in Wien. Die MA 11 dementiert­e diese Vorwürfe bisher.

Nun sagt Pöschmann: „Es geht uns immer um die Sicherheit des Kindes.“Deshalb könne es vorkommen, dass, wenn ein Kind schnell aufgenomme­n werden müsse, es auf einer Matratze schlafen müsse, weil gerade kein Bett frei ist. „Aber das ist die Ausnahme, nicht die Regel“, sagt die Sprecherin. Gertraud Pantucek, Leiterin des Instituts für Soziale Arbeit an der FH Johanneum in Graz, betont, dass solche Umstände, auch wenn es Ausnahmefä­lle sind, für Kinder und Jugendlich­e „angsterreg­end“sein können. „Jeder

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