Krise der Kinder- und Jugendhilfe: Der
In Krisenzentren und Wohngemeinschaften herrscht akuter Personalmangel. Die Volksanwaltschaft berichtet von Übergriffen unter den Jugendlichen.
Anja G.* ist Jugendbetreuerin mit Leib und Seele − genauer gesagt: Sie war es. Denn erst kürzlich hat sie sich beruflich umorientiert, arbeitet nun nicht mehr als Sozialarbeiterin in einer Wohngemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe, sondern in einer privaten Einrichtung. Der Grund: Sie konnte die Dauerbelastung nicht mehr stemmen.
Rund 60 Stunden die Woche war sie mit bis zu acht Kindern in der Wohnung allein. Das habe zu prekären Situationen geführt, erzählt sie. Etwa, wenn ein Kind handgreiflich wurde, ein anderes, gewalttraumatisiertes Kind daraufhin eine Panikattacke bekam. Für Anja G. bedeutete das: „Ich musste mich entscheiden, um wen ich mich kümmere.“
Während Corona-Einzelquarantänen sei die Situation für viele Bewohnerinnen und Bewohner nicht mehr tragbar gewesen; die Kinder und Jugendlichen hätten teilweise nur noch „raus wollen“. Anja G. zog schließlich die Notbremse, um ihre eigene psychische Gesundheit zu wahren. Mit ihren Erfahrungen ist die junge Frau nicht allein. „Burn-outs ziehen sich durch die gesamte Organisation“, sagt sie.
Die Kinder- und Jugendhilfe unterstützt Familien und hilft Minderjährigen in Notlagen. Sind Kinder oder Jugendliche in Familien nicht ausreichend geschützt oder gar Gewalt ausgesetzt, kommen sie in ein sogenanntes Krisenzentrum. Sollten sie nicht mehr in die Familie eingegliedert werden können, werden sie meist in Wohngemeinschaften untergebracht.
»Ich habe nicht mehr sagen können, ich stelle den Kinderschutz sicher.«
Seit Längerem leidet die Organisation aber unter akutem Fachkräftemangel. Immer mehr Betreuerinnen und Betreuer werfen aufgrund der Belastungen die Flinte ins Korn, was den Druck für die übrigen erhöht. Burnouts sorgen dafür, dass es monatelange Ausfälle gibt, die Stellen jedoch nicht nachbesetzt werden, berichtet Anja G. Die Volksanwaltschaft meldet dazu in ihrem Jahresbericht 2021: „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Einrichtungen mussten bis an ihre Leistungsgrenzen gehen, um Minderjährigen in kritischen Phasen beizustehen und den Betrieb aufrechtzuerhalten. Strukturelle Versorgungsdefizite können aber auch sie – trotz Bemühung – nicht kompensieren.“
Übergriffe und Polizeieinsätze. Die Volksanwaltschaft hat in mehreren Bundesländern Einrichtungen überprüft. In Niederösterreich traf die Kommission in Wohngemeinschaften auf Jugendliche, die ihren Mitbewohnerinnen und -bewohnern gegenüber gewalttätig wurden. Rettungs- und Polizeieinsätze verängstigen die unbeteiligten Kinder und Jugendlichen. Unterschiedliche Altersgruppen innerhalb der Einrichtungen verschärfen die Problematik. Weiter gibt die Volksanwaltschaft an, in Kärnten auf eine Wohngemeinschaft gestoßen zu sein, in der ein straffälliger Jugendlicher Mitbewohnerinnen und Mitbewohner dazu animierte, ebenfalls kriminelle Handlungen
zu begehen. Andere fühlten sich bedroht und wollten dringend die Unterkunft wechseln.
„Ja, die Situation ist angespannt“, bestätigt nun auch Ingrid Pöschmann, Sprecherin der MA 11, die in Wien für die Kinder- und Jugendhilfe zuständig ist. Der Fachkräftemangel schlage sich gerade sehr stark in der Pädagogik nieder, Posten können oft nicht nachbesetzt werden. Das führe dazu, dass Beschäftigte öfter auch Überstunden leisten müssen. „Aber wir haben eine starke Personalvertretung, die genau darauf schaut, dass Ruhezeiten eingehalten werden“, sagt Pöschmann. Um mehr Personal zu gewinnen und zu halten, versucht man, unter anderem in Zusammenarbeit mit Fachhochschulen, das Image dieses Arbeitsbereichs zu verbessern und treffe interne Qualifizierungsmaßnahmen.
Matratzen auf dem Boden. Auch in den Krisenzentren kann man den Anforderungen, zumindest zeitweise, nicht mehr gerecht werden. Clara F. hat Soziale Arbeit studiert. Nach ihrem Abschluss wollte sie in einem Krisenzentrum in Wien arbeiten, nicht zuletzt, weil es dort keine Einzeldienste gibt. Alle seien sehr bemüht gewesen, den Umgang mit den Kindern bezeichnet sie als „liebevoll“. Die Rahmenbedingungen waren es schließlich, die sie abschreckten. So habe sie Räume gesehen, in denen Kinder auf Matratzen auf dem Boden schlafen mussten. Auch die Volksanwaltschaft macht diese Beobachtungen in Wien. Die MA 11 dementierte diese Vorwürfe bisher.
Nun sagt Pöschmann: „Es geht uns immer um die Sicherheit des Kindes.“Deshalb könne es vorkommen, dass, wenn ein Kind schnell aufgenommen werden müsse, es auf einer Matratze schlafen müsse, weil gerade kein Bett frei ist. „Aber das ist die Ausnahme, nicht die Regel“, sagt die Sprecherin. Gertraud Pantucek, Leiterin des Instituts für Soziale Arbeit an der FH Johanneum in Graz, betont, dass solche Umstände, auch wenn es Ausnahmefälle sind, für Kinder und Jugendliche „angsterregend“sein können. „Jeder