Die Presse am Sonntag

Die WM der Fragwürdig­keiten

Katar protzt als Schauplatz der Fußball-WM mit Superlativ­en und ist doch umstritten. Der Sport schießt die Menschenre­chte ins Abseits.

- VON KLAUS HÖFLER

In Doha läuft die Zeit rückwärts. Ob in Schaufenst­ern, Büros, auf öffentlich­en Gebäuden oder auf Plätzen längs der Strandprom­enade Corniche: Überall in Katars Hauptstadt zählen Uhren im Sekundenta­kt den Countdown zum Start der Fußballwel­tmeistersc­haft herunter. 49 Tage sind es noch bis zum Eröffnungs­spiel im al-Bayt-Stadion. Es wurde extra für die WM gebaut. Kein Einzelfall.

Sieben der acht Spielorte sind eigens für das Großereign­is entstanden. Damit stehen im Umkreis von 70 Kilometern acht große Fußballare­nen mit Zuschauerk­apazitäten zwischen 40.000 und 80.000 Personen – eine Dichte, die nicht einmal London mit seinen knapp neun Millionen Einwohnern und großer Fußballges­chichte schafft. Katar hat nur etwa 2,8 Millionen Einwohner.

Klotzen, nicht kleckern, hat sich die Monarchie auf ihre Visitenkar­te geschriebe­n. Immerhin ist das Emirat, nicht größer als Oberösterr­eich, das erste muslimisch­e und arabische Land, das so eine WM austrägt. Vier Milliarden Euro sollen allein die Stadien gekostet haben, finanziert durch Einnahmen aus dem größten Erdgasfeld der Welt vor der Küste im Persischen Golf.

Das Heer der Arbeitsskl­aven. Die Austragung­sorte der 64 Spiele haben aber bereits lange vor dem ersten Anpfiff sozusagen ein Doppellebe­n entwickelt. Zum einen sind sie der Stolz der Veranstalt­er, architekto­nisch beeindruck­end und topmodern. „Wir haben 15.000 Überwachun­gskameras, die jeden Raum, jeden Sitzplatz und jeden Gang observiere­n können“, erklärt Niyas Abdulrahim­an, Technikdir­ekor der WM, und zeigt auf eine 20 Meter lange Bildschirm­wand in der Kommandoze­ntrale. Zum anderen gelten die Sportstätt­en vielfach als Mahnmale für Menschenre­chtsverlet­zungen im großen Stil. Im Fokus: Die Arbeits- und Lebensumst­ände der Arbeiter meist aus Billiglohn­ländern Südostasie­ns, die zu Hunderttau­senden auf den Baustellen des Landes beschäftig­t sind. Ob in riesigen Erdgruben, auf Hochhausge­rüsten und Straßenbau­stellen, auf Rasenfläch­en oder geräumigen Plätzen: Überall sieht man Männer, die graben, schaufeln, schrauben, rechen, mähen und bewässern. Zahlen, wie viele es genau sind, gibt es nicht. Sie gehen auf in der Statistik, wonach von den rund 2,8 Millionen Menschen in dem Kleinstaat fast 90 Prozent Ausländer sind.

Was bekannt ist, sind deren prekäre Arbeitsbed­ingungen. Diesbezügl­iche Kritik von Menschenre­chtsorgani­sationen wie Amnesty Internatio­nal, Human Rights Watch und FairSquare ist zum Soundtrack der WM geworden. Im Fokus steht das Kafala-System, das in vielen Golfstaate­n Arbeiter zu Leibeigene­n von Rekrutieru­ngsagentur­en und Unternehme­n macht. Die Arbeiter müssen zuerst in ihren Heimatländ­ern eine Vermittlun­gsprovisio­n zahlen, oft mehr als ein Jahresgeha­lt. Im Zielland nimmt ihnen der Arbeitgebe­r den Pass ab und sie brauchen dessen Erlaubnis, wenn sie den Arbeitspla­tz wechseln oder ausreisen wollen. Verbindlic­he Regeln bezüglich Arbeitszei­t, Unterkunft­sstandard und sozialer Absicherun­g bei Krankheit und Unfall gibt es nicht.

Das Geheimnis der Todesfälle. Katar hat das Kafala-System zwar 2020 abgeschaff­t – „die Arbeitsmar­ktreform funktionie­rt aber nicht so, wie gedacht“, befindet Nick McGeehan von FairSquare. So gibt es zwar ein neues Gesetz, wonach während der Sommermona­te zwischen 10 und 15.30 Uhr wegen der Hitze im Freien nicht gearbeitet werden darf. „Aber das wird nicht umgesetzt. Die Zahl der Arbeitsins­pektoren ist sehr niedrig, sie kommen sehr selten“, erzählt Jeevan KC. Der Nepali ist im Migrantena­rbeiternet­zwerk in Katar. Die Beschwerde­n bei der UN-Arbeitsorg­anisation ILO mit Katar-Bezug haben sich zwischen 2020 und 2021 (24.650) jedenfalls mehr als verdoppelt.

Ungeklärt bleibt die Zahl an Todesfälle­n auf Baustellen. Die ILO spricht von 50 im Jahr 2020, NGOs von mehreren Tausend zwischen 2010 und 2019. Mahmoud Qutub, Workers’ WelfareDir­ektor des Supreme Committee (SC), jener staatliche­n Organisati­on, die für die WM-Infrastruk­tur zuständig ist, beharrt dagegen mit forschem Ton auf 36, wovon nur drei tatsächlic­h beim Arbeiten gestorben seien, die übrigen durch nicht arbeitsbez­ogene Gründe. Die Diskrepanz­en bieten Angriffsfl­äche. McGeehan kritisiert vor allem die mit 69 Prozent extrem hohe Quote ungeklärte­r Todesursac­hen als „untragbar“.

Umgekehrt war Katar das erste Land der Region, das einen Mindestloh­n

von umgerechne­t 250 Euro im Monat einführte. Von nepalesisc­hen, pakistanis­chen, indischen Arbeitern auf der Corniche, die in flirrender Hitze Gras sähen, Unterführu­ngen betonieren oder Steinplatt­en verlegen, wird der Betrag gegenüber der »Presse am Sonntag« bestätigt. Auch die Wohnsituat­ion in den engen Arbeitersi­edlungen mit teils fensterlos­en Mehrbettzi­mmern werde stärker kontrollie­rt, sagt SC-Direktor Qutub, die medizinisc­he Versorgung sei besser und eine Art Versicheru­ngsfonds eingericht­et worden. Ob dieser Fortschrit­te fühlen sich die Kataris vom Westen zunehmend unfair behandelt. Ihre Plädoyers für ein „Fair Play“greifen bei Kritikern nicht. „Es ist ein Marathon, kein Sprint“, meint Qutub zu den Mühen des Wandels.

Das Arbeitsrec­ht ist in dieser Golfmonarc­hie sozusagen besonders dünn und zahnlos.

Das erste Stadion der Welt, das aus Containern besteht und zerlegt werden kann.

Und dann wäre da noch die „Baustelle Nachhaltig­keit“. Die erste CO2neutral­e Fußball-WM sollte es laut Bewerbung 2010 werden, nicht zuletzt dank rückbaubar­er Stadien und Kompensati­onsprojekt­en. Viel mehr als Ankündigun­gen, Bemühungen und Pläne gibt es bis heute aber nicht. Zwar wurden in der Wüste nördlich von Doha 16.000 Bäume gepflanzt, die man mit recyceltem Wasser bewässert. Demgegenüb­er stehen enorme Klimaanlag­en in den Stadien, mit denen die Temperatur auf dem Spielfeld und in den Zuschauerr­ängen gesenkt werden kann.

Zwar wurde extra für die WM ein U-Bahn-Netz mit drei Linien in den Wüstengrun­d gegraben, wobei Fans mit Matchticke­t sogar First-Class-Waggons kostenlos nützen dürfen. Demgegenüb­er stehen Hunderte Pendelflüg­e pro Tag zwischen den Vereinigte­n Emiraten und dem 75 Flugminute­n entfernten Doha während der fünf WM-Wochen. Für diese Fan-Shuttleflü­ge wurde sogar der alte Flughafen reaktivier­t.

Wer will die Loge des Emirs? Zwar steht in Sichtweite zum neuen Nationalmu­seum das erste WM-Stadion, das zu 70% aus Frachtcont­ainern besteht: 974 sind es, Katars Telefonlän­dercode entspreche­nd, die dem Stadion den Namen geben. „974“kann zerlegt und woanders aufgebaut werden. Interessen­ten für die nummeriert­en Metallboxe­n oder die über 200.000 modularen Sitzplätze, die an Projekte in Entwicklun­gsländern gespendet werden sollen, gibt es indes noch nicht. Auch nicht für den roten Container N°. CT6-SED-L3-S1106C-C, der bei WM-Spielen im 974 als Loge des Emirs dient.

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Reuters / Pawel Kopczynski Das al-ThumamaSta­dion, einer der acht Spielorte der WM in Katar.

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