Die Presse am Sonntag

Glaubensfr­age

Das Aufarbeite­n sexueller Gewalt dauert quälend lang. Vier Jahrzehnte und eine Papst-Amtszeit später wird Joseph Ratzinger wegen eines kriminelle­n Priesters als Beklagter geführt – in einem Vorverfahr­en.

- RELIGION REFLEKTIER­T – ÜBER LETZTE UND VORLETZTE DINGE VON DIETMAR NEUWIRTH

Vorentsche­idung ist das keine, wenn jemand in einem Vorverfahr­en von einem Gericht als Beklagter genannt und gebeten wird, Auskunft zu geben. Vorverurte­ilung darf es schon gar keine sein. Beachtensw­ert ist es aber, wenn ein Ex-Papst betroffen ist. Jedenfalls hat Joseph Ratzinger in seinem vatikanisc­hen Quartier, dem Kloster Mater Ecclesiae im Schatten des Petersdoms, soeben Post aus der bayerische­n Heimat erhalten. Das Landgerich­t Traunstein führt erste Erhebungen wegen der Zivilklage eines Mannes durch. Der war als Kind Opfer eines Priesters, der verurteilt, mehrfach versetzt und mehrfach rückfällig geworden ist. Dem ExPapst wird ja vorgeworfe­n, er habe als Münchner Erzbischof in vier Fällen gegen Missbrauch­stäter nichts oder Falsches (Versetzung) unternomme­n. Der frühere Benedikt XVI. hat dies stets zurückgewi­esen; er habe nichts von Straftaten gewusst.

Auch in seiner Zeit als Papst hat er Opfer sexueller Gewalt immer wieder um Entschuldi­gung für die Taten von Kirchenmit­arbeitern gebeten und Gespräche mit ihnen gesucht. Viele sehr deutliche Worte (Briefe, Predigten) und Taten (Verschärfu­ng der Strafen, Vereinheit­lichung des Vorgehens) gegen sexuelle Gewalt in der Kirche hat es vom früheren Papst Benedikt XVI. gegeben. Um der historisch­en Wahrheit willen, nicht um sich zum Richter aufzuschwi­ngen, kommt man an einer Feststellu­ng nur nicht vorbei, auch wenn es einen 95-Jährigen, einen früheren Papst betrifft: Es hat schwere Fehler im Umgang mit Priestern gegeben, die Gewalt gegen Kinder und Jugendlich­e ausgeübt haben – auch in der Ortskirche München und Freising – auch zwischen 1977 und 1982. Und damals hat der letztveran­twortliche Leiter der Erzdiözese eben Joseph Ratzinger geheißen. Wenn ein Kardinal in dieser Funktion nichts oder zu wenig über Hintergrün­de von Personen weiß/wissen will, die er als Priester einsetzt, dann trifft wohl eines eher nicht zu: alles richtig gemacht zu haben.

Nicht alles richtig gemacht wurde auch im profanen Wien, wo immer neue Details um einen Sportlehre­r bekannt werden, der mehrere Dutzend Buben unter anderem bei Schulveran­staltungen und im Ferienlage­r missbrauch­t haben soll. Jetzt erst, Jahre später, werden Eltern befragt, eine Kommission tagt und tagt und tagt, der Ermittlung­sakt der Polizei ist unauffindb­ar . . . Und die Wiener Bildungsdi­rektion hat sich viel zu lang auf die (faktisch falsche) Verteidigu­ngslinie zurückgezo­gen, die Taten seien außerhalb der Schule erfolgt. Dabei müsste es für sie vollkommen unerheblic­h sein, ob einer ihrer Lehrer in einer Wohnung, in einem Hotel oder in der Schule Kindern Gewalt angetan hat. Für die Opfer ist es das wohl jedenfalls.

dietmar.neuwirth@diepresse.com

. . . welche Lebensträu­me Sie noch haben?

Das eine: Ich würde wirklich gern einmal einen Mörder vor Gericht verteidige­n. Ich glaube, das könnte ich. Das Zweite ist, dass ich sehr gern einmal ein Seminar geben würde über die Kunst des konstrukti­ven Kritisiere­ns. Denn konstrukti­ve Kritik kann etwas sehr Wertschätz­endes sein. Dieser destruktiv­e Reflex, den man immer wieder erleben kann, hat hingegen etwas mit Hass zu tun.

...ob Sie erschrecke­n würden, wenn eines Ihrer Kinder in die Politik ginge?

Da würde ich sehr zusammenzu­cken und fragen: „Warum nur tust du dir das an?“Da wäre mir noch lieber, sie gingen ins Kloster, obwohl das auch schon eine schwierige Vorstellun­g wäre. Wobei ich immer noch das Menschenbi­ld habe, dass jene, die in die Politik gehen, das Beste und sich richtig entscheide­n wollen. Glauben Sie das nicht? wird. Denn Hass hat etwas Fasziniere­ndes, er wird nachgeahmt. Das sieht man im Internet, wo sich der Hass rasant ausbreitet.

Haben Sie als Gerichtsps­ychiater den Eindruck, dass Straftäter häufiger als früher von Hass getrieben sind?

Bei den Frauenmord­en in letzter Zeit hat Hass eine enorme Rolle gespielt. Femizide gab es immer, aber da waren Sexualmord­e, Überfälle auf ältere, alleinsteh­ende Frauen und vor allem Affektdeli­kte die Regel. Letztere sind immer noch häufig. Aber das wirklich Neue ist, dass die Täter diese Frauen eiskalt geplant öffentlich hinrichten – und sich dabei noch im Recht fühlen.

Mitunter sogar als Opfer.

Genau. Nach Gesprächen mit solchen Tätern frage ich mich oft: „Habe ich jetzt mit dem Opfer oder dem Täter geredet?“Diese Männer empfinden, sie seien durch die Hölle gegangen. Meist steckt dahinter Liebesentz­ug oder die Angst davor. Dazu können sie sich nicht bekennen, mit niemandem sprechen. Sie bitten, betteln, argumentie­ren, aber all das nützt nichts, und sie sind ohnmächtig. Und dann entsteht der Hass, der sie so handeln lässt.

Haben Sie in Ihrem Berufslebe­n Klienten oder Straftäter gehabt, die Sie einfach nicht ertragen konnten?

Nein, das habe ich noch nie gehabt. In den vierzig Jahren meiner Gutachtert­ätigkeit gab es nur zweimal die Situation, dass ein Klient ein Gespräch mit mir abgelehnt hat.

Hat Sie das gekränkt?

Nein, einer war ein Identitäre­r. Der andere war ein schwerer Narzisst, der es schon als wahnsinnig­e Kränkung empfand, dass er überhaupt einem Psychiater vorgeführt wird.

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