STECKBRIEF
1951 wurde Reinhard Haller im Bregenzerwald geboren. Er ist Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie.
Von 1983 bis 2017 war Haller Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.
Als Gerichtsgutachter verfasste er unter anderem Gutachten in den Fällen des Sexualmörders Jack Unterweger, des Briefbombenattentäters Franz Fuchs und des Amokfahrers in Graz.
Er ist Autor zahlreicher Sachbücher, etwa „Die Macht der Kränkung“, „Das Wunder der Wertschätzung“, „Die Narzissmusfalle“, „Das ganz normale Böse“. Im Juni 2022 erschien sein neuestes Buch.
Können Sie über Ihre größte Kränkung sprechen?
Das kann ich: Ich komme aus dem hinteren Bregenzerwald, ich bin also ein Hinterwäldler. Als ich mit zehn Jahren ins Internat kam, habe ich einen sehr breiten, schwerfälligen Dialekt gesprochen. Dafür bin ich von meinen Mitschülern dauernd bis aufs Blut gehänselt worden. Das hat mich tief gekränkt.
Wie haben Sie diese Kränkung überwunden? Ich erkläre mir das so, auch wenn das jetzt ein wenig eitel klingen mag: Ich kann sehr viele Dinge nicht und technisch bin ich bekanntermaßen schwachsinnig . . .
. . . „schwachsinnig“? Warum sprechen Sie so über sich?
Weil es stimmt. Testpsychologisch ist das nachgewiesen. Im technischmathematisch-abstrakten Bereich habe ich einen IQ von 73, das ist mittlerer Schwachsinn. Das muss ich zugeben.
Aha. Sie sind also technisch mittelgradig schwachsinnig.
Ja, aber die Leute sagen, ich kann relativ gut reden. Ich denke, indem ich mich aufs Reden fokussierte, habe ich diese Kränkung bewältigt.
Diese Bewältigungsstrategie haben Sie aus sich selbst heraus entwickelt?
Es gab ein Schlüsselerlebnis: Ich hatte im Gymnasium einen Deutschprofessor, den ich sehr verehrt habe. Er hatte aufgrund einer Kriegsverletzung selbst einen schweren Sprachfehler. Er wurde dafür auch furchtbar gehänselt. Eines Tages sagte er zu mir: „Haller, du bist ein rhetorisches Talent.“Ich konnte das gar nicht glauben, jedenfalls hatte sein Satz auf mich eine ganz besondere Wirkung. Bekanntlich wirken Lob und Kränkung umso intensiver, je näher einem eine Person steht. Gut zu reden war mir danach noch wichtiger, wahrscheinlich habe ich auch deshalb die „sprechende Medizin“gewählt.
Was ein aufrichtig gemeintes Lob alles bewirken kann.
Wertschätzung ist das Gegenteil von Kränkung. Keine Wertschätzung zu bekommen ist die größte – und häufigste – Kränkung. Wenn man sie nicht schon im Elternhaus bekommen hat, hat man ein Leben lang ein großes Verlangen danach, ja geradezu eine große Gier. Ich habe dieses Gesetz aufgestellt: Jeder Mensch, der dir begegnet, erwartet Wertschätzung von dir, selbst wenn er dir zuerst mit Gleichgültigkeit, Ablehnung oder sogar Hass begegnet. Dessen sollten wir uns bewusst sein.
Apropos Hass: Mit ihm haben Sie sich in Ihrem jüngsten Werk befasst. Jeder kennt dieses Gefühl, aber kaum jemand traut sich das zuzugeben.
Das stimmt. Hass gehört zur Grundausstattung der menschlichen Gefühlswelt. Wir verdrängen ihn, weil er uns peinlich ist. Hass ist eine sehr primitive, destruktive und undifferenzierte Emotion, weil sie knallhart über alles drüberfährt. Aber wenn man die Menschen dazu bringt, sich dessen bewusst zu werden und darüber zu sprechen, ist das die einzige Hassprävention.
Ich frage mich, ob man Menschen ermutigt, über ihren Hass zu sprechen, wenn man sagt, er sei sehr primitiv, undifferenziert und destruktiv. Denn wer will schon so sein?
Da haben Sie schon recht. Man kann nicht auf der einen Seite sagen: „Warum kommen die Menschen mit ihrem Hassproblem nicht in Therapie?“und auf der anderen: „Hass ist etwas ganz Primitives.“Mit „primitiv“wollte ich den evolutionären Aspekt ansprechen. Vor allem aber ging es mir darum, dass der gesellschaftliche Hass nicht Mode