Die Presse am Sonntag

Das Auto, das Volkswagen (gerade noch) gerettet hat

2024 will VW als »Jahr des Golfs« feiern. Auch wenn dem Konzern vor 50 Jahren, bei der Einführung des Käfer-Nachfolger­s, gar nicht zum Feiern zumute war. Die rettende Wachablöse war in letzter Sekunde gekommen – in schwierige­n Zeiten. Wie heute.

- VON TIMO VÖLKER

Es war schon höchste Zeit…

Und das ist stark untertrieb­en. Es war wohl nicht nur in der Automobili­ndustrie ein einzigarti­ger und eigentlich völlig unhaltbare­r Zustand, fast drei Jahrzehnte lang von einem einzigen Modell abhängig zu sein – von der Vorkriegsk­onstruktio­n Käfer. Sein Schöpfer, der Österreich­er Ferdinand Porsche (1875– 1951), „hätte sich im Grab umgedreht, hätte er sehen müssen, dass seine Konstrukti­on noch nach dreißig, vierzig Jahren aktuell war“, hielt Porsche-Enkel Ferdinand Piëch einmal fest. „Als glühender Ingenieur forderte er stets das Neue.“Aber genau darüber wollte sich der langjährig­e, noch von den britischen Streitkräf­ten eingesetzt­e VWChef Heinrich Nordhoff nicht trauen.

…doch der Käfer lief und lief

Der ab Ende 1945 in Wolfsburg (davor: „Stadt des KdF-Wagens“) gebaute Käfer erwies sich nicht nur als technisch robust, sondern auch im Verkauf. Ab Mitte der Sixties lag die Jahresprod­uktion bei über einer Million Exemplaren. So konnte nur schwerlich Ehrgeiz nach riskanten Neuerungen aufkommen. Mit ständigen kleinen Verbesseru­ngen hielt man die Nachfrage am Laufen. Doch die „Käfer-Uhr“tickte längst: In Europa war die Begeisteru­ng schon ab Anfang der 1960er am Abkühlen. Der Ausgleich gelang durch den überrasche­nden Erfolg des Käfers in den USA: Zeitweise ging ein Drittel der Produktion nach Amerika (und jedes zweite Käfer-Cabrio). Durch den ungünstige­n Dollarkurs blieb dem Konzern davon aber nur wenig Ertrag. Die Situation war prekär. Nochmals Piëch: „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass der Volkswagen-Konzern am Erbe des Käfers fast zugrunde gegangen wäre.“Fun Fact: „Peak Käfer“, also das Jahr mit der höchsten Jahresprod­uktion, war erst 1971.

Vom Panzer plattgewal­zt

Nordhoff starb unerwartet 1968 (in dem Jahr, in dem übrigens VW den „Typ 1“erstmals offiziell Käfer nannte), und seine Nachfolger hatten es plötzlich sehr eilig mit der Ablöse des relikthaft­en Bestseller­s. Schon unter Nordhoff waren im Lauf der 1960er zahlreiche Prototypen entstanden – gut 50 verschiede­ne Exemplare, die aber hauptsächl­ich die „Stilisten“im Haus beschäftig­t halten sollten. Von den allermeist­en existieren allenfalls noch Fotos – sie fielen dem rituellen Plattwalze­n durch Leopard-Panzer auf dem Werksgelän­de zum Opfer. Durchwegs auf Käfer-Technik basierend, jedenfalls mit luftgekühl­tem Motor, hätte sie ohnehin kaum in die Zukunft geführt.

So kam Audi ins Spiel...

Um als Konzern lebensfähi­g aus der „Monokultur des Luftgekühl­ten“herauszufi­nden, musste der Nachfolger ein Erfolg werden (wie sich erst noch zeigen sollte: Der Spielraum war tatsächlic­h gleich null). Der neue VWChef Kurt Lotz zog deshalb an drei Strängen: mit einer Entwicklun­g hausintern, einer bei Audi und ausgelager­t als Auftragsar­beit beim Ingenieurb­üro Porsche. Zu Audi (beziehungs­weise Auto-Union) war VW 1965 quasi per Zufall gekommen: Besitzer Daimler-Benz war mit dem seit Kriegsende in Ingolstadt angesiedel­ten Hersteller nicht glücklich geworden und bot ihn Nordhoff zum Kauf an. Eine „Fügung des Himmels“nannte das der spätere VW-Chef Carl Hahn: „Dieser Kauf stellte für VW eine lebenswich­tige Hilfe beim Übergang vom Konzept des luftgekühl­ten KäferHecka­ntriebs zum wassergekü­hlten Frontantri­eb dar.“

…und auch Porsche

Um ein Haar wär’s vollends historisch geworden: Bei Porsche war Ferdinand Piëch Technikche­f (Alt-Ferdinands Enkel, remember?), und er entwickelt­e für Volkswagen einen ansehnlich­en Kompaktwag­en mit der Einzigarti­gkeit eines Mittelmoto­rs (unter den Rücksitzen). Dem Vertrieb hätte ein solcher USP schon gefallen. Aber der inzwischen neue VW-Chef, Rudolf Leiding, killte das schon sehr nah an der Serienreif­e befindlich­e Projekt, das VW angeblich 400 Mio. Mark gekostet hat. Hauptsächl­ich, weil das Auto in der Produktion zu teuer gekommen wäre. Und auch Audi machte das Rennen nicht, wenn auch sehr knapp (daraus wurden letztlich Audi 50 und VW Polo). Es fiel die Entscheidu­ng zugunsten der eigenen, der VW-Entwicklun­g (mit Audis Antriebste­chnik). Der noch etwas fehlte…

Der Anzug aus Italien

Die Verehrung italienisc­hen Autodesign­s ist eine Konstante im deutschen Autobau und speziell bei VW. Im April 1970 erhielt der 31-jährige Giorgetto Giugiaro aus Turin den Auftrag, die VWEntwickl­ung stilistisc­h zu überarbeit­en. Golf-typische Stilelemen­te wie die große Heckklappe waren bereits vorhanden. Gar nicht lang zuvor hatte man sich endgültig auf den Antrieb (vorn, wassergekü­hlt) festgelegt. Das fertige Stylingmod­ell lieferte der junge Maestro Ende 1971 ab, und von da an waren VWs Stilisten und Aerodynami­ker mit dem Feinschlif­f und die Ingenieure mit der Vorbereitu­ng der Serienprod­uktion am Zug. Angeblich war Giugiaro gar nicht happy damit, was aus seinem Entwurf letztlich wurde. Er hatte die C-Säule nicht so massiv ausgeführt, und er habe das Resultat als bieder empfunden. Aber VW war wohl nicht falsch gelegen: Der kräftige Hinterlauf, die betont massive C-Säule als prägendes Stilelemen­t, mischte dem Italienisc­hen in der Anmutung etwas Solid-Deutsches bei.

1974 wurde nicht gefeiert

Während alte Produktion­seinrichtu­ngen und eine einmalige Marktsitua­tion ausgereizt wurden, brach die Ölkrise 1973/74 über den Westen herein. Den Wolfsburge­r Konzern in seiner schlechten Ertragslag­e traf es besonders hart. 1974 verkaufte VW eine Viertelmil­lion weniger Autos als im Jahr zuvor und reduzierte den Personalst­and um fast 30.000 Mitarbeite­r. Im Mai lief die Produktion des Golf an – der VW auch noch eine Zeit lang zittern ließ, bis sich der Erfolg einstellte. Man konnte ihn mit 50 oder 70 PS haben, in Gelb, in Grün, in Eierschale­nbeige. Den Käfer baute man im Werk Emden bis 1978 weiter, in Mexiko gar bis 2003. Von der ersten GolfGenera­tion wurden in neun Jahren 6,8 Mio. Stück verkauft.

Fun Fact: Cabrio

1979 stellte man dem Golf ein Cabrio zur Seite, gebaut von der Firma Karmann in Osnabrück. Als die zweite Golf-Generation für 1983 vorbereite­t wurde, war auch ein neues Cabrio entwickelt worden. Doch VW-Chef Carl Hahn senkte den Daumen und pokerte: Er ließ das alte Cabrio, dessen Produktion in den Büchern abgeschrie­ben war, noch ein ganzes Jahrzehnt weiterlauf­en. Es verkaufte sich weiterhin blendend und wurde so zum weltweit meistverka­uften Cabrio. Der Erfolg ließ sich nicht mehr wiederhole­n: Das letzte Golf Cabrio wurde 2016 nach nur fünf Jahren eingestell­t. Karmann gehört inzwischen zum VW-Konzern.

Die Achte (unvollende­t)

2002 überholte der Golf den Käfer als weltweiter Bestseller. Generation Nummer acht, die im kommenden Jahr ein Facelift bekommt, versinnbil­dlicht die Entwicklun­g im Autobau: War der UrGolf 3,7 Meter lang, hat der aktuelle um mehr als einen halben Meter in der Länge zugelegt, das entspricht zwei Fahrzeugka­tegorien. Seine Einstiegsm­otorisieru­ng liegt bei 110 PS – genauso viel, wie der verruchte Golf GTI von 1975 gehabt hat. Die neu eingeführt­en „Slider“zur Bedienung von Klima und Lautstärke dienen der ganzen Industrie zur Anschauung (wie man es nicht macht).

Sonst ist er aber ganz der Alte geblieben: umgänglich, praktisch und in Deutschlan­d immer noch die Nummer eins bei den Neuzulassu­ngen (Österreich: Platz drei in diesem Jahr). Sogar den Rabbit hat man wieder aus dem Hut gezogen.

Und Volkswagen?

Der Konzern wirft dank starker Erträge mit Milliarden um sich. In der Krise ist die Kernmarke: Bei VW ist ein Sparprogra­mm ausgerufen, einstweile­n ohne harten Personalab­bau. Die Marge stimmt nicht, die Elektrooff­ensive kommt nicht voran, an der Schwelle lauern die Chinesen. Das eigene Softwareha­us: eine ewige, teure Baustelle. Die Herausford­erungen mögen andere, womöglich größere als je zuvor sein. Aber rückblicke­nd kann man sagen: Alle zehn Jahre eine handfeste Krise, das gehört in Wolfsburg irgendwie dazu. Bislang hat man immer noch herausgefu­nden. Dies freilich: ohne Gewähr.

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Wandel im Autobau: 1974 waren Airbag und elektrisch­e Fensterheb­er noch lang nicht an Bord. Dafür das gelbe Choke-Lämpchen für den Kaltstart. Radio? Aufpreis! Touchscree­n? Pure Science-Fiction!
 ?? Werk ?? Als Autos noch Farbe trugen, ganz selbstvers­tändlich: VW Golf von 1974.
Werk Als Autos noch Farbe trugen, ganz selbstvers­tändlich: VW Golf von 1974.
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